9| Ein unverhofftes Wiedersehen

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10. August X742
16:20 Uhr

Es war eine triste, graue Landschaft, mit winzigen Hügelchen, die auf die Entfernung eher wie Pinseltupfer aus Wasser wirkten, in denen sich der Himmel spiegelte und manchmal waren es sogar herausgerupfte Wölkchen, die auf den Boden geklebt worden waren.
Kleine Flüsse grenzten vergangenes von jenem ab, was noch vor ihm war und jedes mal wenn Auron bis zum Bauchnabel einsank, schien ein Teil seiner Erinnerungen vom Wasser mit hinfort getrieben zu werden.

Konzentriert starrte er vor seine Füße, sodass kaum ein anderer Gedanke in seinem Kopf platz fand.
Ab und zu musste er eine Qualle umgehen, deren platter Leichnam auf dem Schlick lag.

Noomi konnte ihn nicht bis an die Hänge Delphi's heranfahren.
Die Gezeiten hatten eingesetzt und das Wasser hatte sich in schmale Priele zurückgezogen, noch bevor sie nahe genug an der Stadt waren.
Außerdem waren sie somit vom geplanten Weg in den Hafen abgeschnitten.
Ihm war nichts weiter übrig geblieben, als zu Fuß weiter zu gehen, so wollte er Noomi nicht dazu zwingen mit ihm auf die Rückkehr der Flut zu warten, die erst in sechs Stunden eintreten würde und der lange Weg dauerte in etwa genauso lang, wie die Strecke die er nun so zurücklegte.

Der Wind donnerte schon förmlich um seine Ohren und peitschte ihm hin und wieder einen seiner Dreads ins Gesicht.
Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut und seine nasse Kleidung begann ihm Nadeln in die Haut zu stechen.
Bis auf seine Füße begannen seine Körperteile nach und nach immer mehr zu ertauben, weshalb er seine Arme verschränkte und mit seinen Händen immer wieder seine Oberarme rieb.

Egal wie warm es auch war, der kalte Wind des Meeres, der über eine freie Fläche wehte, hatte ihm schon immer jegliche Wärme aus den Gliedern gejagt und er wagte zu bezweifeln, dass er damit alleine war.

•••

17:30 Uhr

Jeder ruhige Moment musste einmal enden und Auron war einfach nur froh, dass seine Beine ihn noch trugen.
Kaum hatte er das Watt verlassen und festen Grund unter den Füßen, ließ seine Konzentration nach und machte für eine zurückkehrende Welle der Erinnerungen platz, die er zuvor noch abgespült hatte.
Sie begann einen so enormen Druck auf ihn auszuüben, dass sein gesamter Körper sich augenblicklich verkrampfte. Sein Magen drehte sich um und er schlug seine Hand gegen die Hauswand neben sich, als er eine Stütze brauchte, um seinen Mageninhalt loszuwerden.
Der eklig bittere Geschmack blieb, als er noch immer nach vorne gelehnt, einen unbestimmten Punkt am Boden anstarrte.

Er atmete schwer, seine Zunge klebte am Gaumen und seine Gedanken wanderten zu einer Wasserflasche, die er nicht dabei hatte.

Sein müder Blick hob sich gen untergehende Sonne, die zwischen den Häusern in die Gasse schien, in der er sich soeben übergeben hatte.
Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen und seine Finger kratzten an den Backsteinen entlang. Er machte einen Ausfallschritt, als er fast den Halt verlor.
„Urgh."
Seine trockenen Lippen rissen förmlich auseinander, als er sie nach langer Zeit wieder öffnete. Er fühlte sich, als hätte er seit Jahren nicht mehr gesprochen und aufgrund dessen auch für die nächste Zeit nicht mehr das Bedürfnis es zu tun.

Seine Haare fielen nach vorne und schränkten sein Blickfeld ein.

Er stellte sich einigermaßen gerade hin und hätte fast losgeschrien, als er sich selbst ins Gesicht sah.
Der Steckbrief war noch feucht vom Kleber, mit dem ihn jemand vor kurzem erst an der Wand befestigt hatte.

Das Bild konnte nicht allzu alt sein, er trug schon die Brille, die er sich jedesmal wieder ausgezogen hatte, wenn seine Großeltern weggesehen hatten und die auch jetzt zuhause auf seinem Schreibtisch lag; und auch der Medizinring seines Septums war bereits durch ein richtiges Piercing ersetzt worden.
Seine Dreadlocks waren zu einem Dutt zusammengebunden und offenbarten seine vergleichsweise hohe Stirn mit den breiten Augenbrauen und den zwei Adern, die ein Stück herausstanden wenn er grinste. Etwas was ihn schon immer gestört hatte.

Noch während er darüber grübelte, woher dieses Bild kam und wie die kaiserliche Armee so schnell sein konnte, begann sich sein Schwindel zu verschlimmern. Erste Schweißtropfen flossen seine Schläfen entlang und die Hand an der Hauswand zitterte unkontrolliert.
Hektisch zog er letztere weg, drückte sie an den Stoff seines Shirt's und trat einige Schritte zurück.
Seine Atmung beschleunigte sich - verletzte förmlich die Innenseite seines Mundes, die noch trockener schien als zuvor schon.

Langsam stolperte er in Richtung Straße, als er glaubte seinen Namen gehört zu haben.
Der Kies der Seitenstraße knirschte unter seinen Sandalen, als er immer mehr Worte herauszuhören glaubte.

„Hängt noch ein paar der Zettel dahinten auf!"

An der Hausecke hielt er an, fror in seinen Bewegungen ein und vergaß sogar kurz zu Atmen, was den Puls in seinen Ohren wieder lautstark in die Höhe jagte.

Er sah diese Personen bereits vor seinem inneren Auge in seine Gasse biegen. Todesszenarien spielten sich vor seinen Augen ab. Die Spitze eines Dolches schoss auf seine Augen zu, eine Kugel durchbohrte seine Brust.
Leuchtende Augen und blitzende Zähne von gesichtslosen Gestalten flimmerten und blitzten wie Gespenster, deren Lebensessens von seiner Angst wieder aufgeladen wurde.

Die Muskeln seines Nackens begannen zu ziehen, klemmten sich zwischen einem imaginären Gegenstand ein.
Ränder seines Blickfeldes begannen mit schwarzer Farbe zu verschwimmen.

»Ich werde es niemals lebendig hier raus schaffen! Das ist... das ist schlichtweg unmöglich!«
Seine gedankliche Stimme klang jünger als sonst. Egal wohin er sah, jede Wand in seiner Umgebung schien näher zu kommen und jetzt waren nicht einmal seine Gedanken ein Rückzugsort, der ihn sich beruhigen ließ.

„Hoffnung... kann gar nicht existieren. Sie... ist nur ein Trugbild, das wir uns zurechtlegen, um der Realität zu entfliehen... Nichts wird sich je ändern..."
Es war ein leises, heiseres flüstern, das da über seine rissigen Lippen kam.
Seine kalten Hände schlossen sich um den Stein, den Licht ihm gegeben hatte; das Einzige, das ihm irgendwo noch die innere Ruhe gab die er brauchte, als er seine Augen schloss und sich langsam nach vorne fallen ließ.
Gleich würde er direkt vor den Leuten am Boden liegen, die ihn suchten. Die seine Angst so sehr geschürt hatten, dass er sich ihnen freiwillig ergab, weil Weglaufen sowieso keinen Sinn hatte. Wo hatte er überhaupt hingewollt. Er kannte kaum Leute und wo Licht derzeitig war, wusste er auch nicht.
»Wie es dir wohl geht?«

Kaum berührte der Luftzug der Straße seine Nase, zog ihn ein Ruck an der Halsnaht seines Shirts zurück. Ein kurzes Röcheln entkam seinem Mund, als sich der Stoff gegen seine Luftröhre presste.
Zwei blaue Augen starrten ihn fassungslos, fast schon erschrocken an und die Wärme von zwei großen Händen legte sich auf seine Schultern.

Aurons eigene Augen weiteten sich, als er die bekannten weichen Gesichtszüge und das goldene Haar erkannte.
Licht trug wie auch schon bei ihrem ersten Treffen einen braunen Brustpanzer und den grauen Reiseumhang. Außerdem schien er in den letzten sechs Jahren um keinen einzigen Tag gealtert zu sein, geschweige denn, dass sich irgendetwas an dem Rest seines Erscheinungsbildes geändert hätte.

•••

12. August  X742

„Nicht sein Ernst."
Eine Stimme so kratzig verunstaltet, dass es unmöglich wäre das Geschlecht des Besitzers anhand von dieser zu erraten, störte die Ruhe des Sees an dem der Samurai saß.

Daan vermied es für gewöhnlich zu sprechen, da die damit verbundenen Schmerzen einfach zu groß waren, doch ihr Unmut über die Nachricht, die Licht ihr hatte zukommen lassen, hatte sie in Worte fassen müssen. Sie waren ohne, dass sie lange hatte überlegen können, über ihre Lippen gekommen.
Ein abwertendes Schnalzen und ein schmerzverzerrtes Gesicht waren die Folge.

Die schlafenden Enten am Ufer des Sees blickten auf und starrten in Richtung des täglichen Besuchers.

Sie lag an einem Baum gelehnt, das eine Bein über dem anderen und der obere Fuß scheinbar im Wippen eingefroren.
Der dicke Pelz des roten Mantels, trennte ihre tätowierte Haut von der Rinde.

Genervt ließ Daan das Stück Papier sinken. Ihre in klobige Lederhandschuhe gehüllten Hände, zerknitterten es dabei unbemerkt.

»Das ist das letzte Mal, dass ich dir einen Gefallen tue, Licht.
Ich kann nicht einfach über den Kopf des Ordens hinweg entscheiden.«

[1307]

Der Orden der Streuner  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt