5 | Der Königssohn und der Bauernjunge

12.4K 984 245
                                    

Als ich aufwachte, war ich für mindestens zehn Sekunden fest davon überzeugt, entführt worden zu sein.

Über mir verlief eine Dachschräge und ich war mir fast ganz sicher, dass meine Appartmentwohnung in Seattle eine ebenmäßige Decke besaß.

Außerdem duftete der Bettbezug nach Vanille. Das war wirklich abnormal.

Ich setzte mich abrupt im Bett auf und sah verwirrt auf die gegenüberliegende Wand, in der ein Fenster eingelassen war.

So eine Aussicht würde mal wohl niemals in Seattle zu Gesicht bekommen.

Eine hügelreiche Sommerlandschaft erstreckte sich vor meinen Augen, leicht glitzernd aufgrund des Morgentaus, das letzte Überbleibsel der Nacht.

Die Sonne war schon aufgegangen, seit einer Weile sogar, denn die kleine Baumgruppe auf einem der Hügel warf verhältnismäßig kurze Schatten.

Ich wirbelte zur Tür neben meinem Bett herum, als diese ein verheißungsvolles Klappern von sich gab, als ob jemand versuchte, sie zu öffnen.

Ohne nachzudenken, griff ich nach dem Kerzenleuchter, der auf meinem Nachttisch stand und hielt ihn eine Armlänge von mir weg, bereit dazu, zuzuschlagen.

Dem Eindringling war es endlich gelungen, die Tür zu öffnen, und zu meiner größten Überraschung stand Piper im Türrahmen.

"Die blöde Tür klemmt", seufzte sie. "Es gibt Frühstück. David und die anderen warten schon."

David? Und was machte Piper hier?

Erst jetzt schien mein Gehirn die ersten Versuche zu machen, sich das Geschehene wenigstens ein bisschen zu erklären.

Langsam wurde mir bewusst, dass ich keineswegs ein Entführungsopfer war.

Pipers Hochzeit! England!

"Klar, ich komme gleich", gähnte ich.

Junge, so viel Stress am Morgen konnte nicht gut für die Verdauung sein.

"Sag mal, ist das ein Kerzenleuchter in deiner Hand?"

Als Antwort warf ich ein Kissen nach ihr, und sie zog lachend die Tür hinter sich zu.

Ich versuchte aufzustehen, doch leider verfing ich mich dabei im Bettlaken, sodass ich der Länge nach aus dem Bett fiel, begleitet von einem dumpfen Knall.

Während ich meinen Koffer nach etwas Leichtem, Lockeren durchsuchte, kehrte meine Erinnerung an den gestrigen Abend langsam zurück.

War da nicht irgendwas mit Davids Bruder gewesen?

Oh, Gott, ja.

Dieser arrogante, unhöfliche Zyniker, der sich weder über Piper, noch über mich sonderlich positiv geäußert hatte.

Hoffentlich war er beim Frühstück nicht zugegen, sonst würde ich früher oder später einen Nervenzusammenbruch erleiden.

Leider erhörten die kosmischen Mächte mein Flehen nicht, und so fand ich mich zehn Minuten später an einer langen Tafel in einem eleganten hohen Speisesaal wieder, direkt gegenüber von Evan.

Man hatte offenbar die Sitzordnung von gestern Abend beibehalten, und während ich mir schlecht gelaunt Rühreier auf meinen Teller schaufelte, erzählte David, wie ich drei Stockwerke über dem Speisesaal in der großen Manserade herumgeirrt war.

"Man kann ja mal rechts und links verwechseln", murmelte ich beleidigt.

Evan hob eine Augenbraue. "Sieht eher so aus, als ob du oben und unten verwechselt hast." Er beugte sich leicht vor. "Es ist eigentlich ganz einfach. Treppen, die jemand wie du hinunterfallen kannst, gehen nach unten. Alle anderen führen nach oben."

The Best ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt