10 | Das Janus-Syndrom

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Die von Apple Maps berechnete Fahrzeit von Fellsridge nach London betrug zweieinhalb Stunden.

Wir waren in knapp fünfzig Minuten da.

Nach der vierten Radarfalle hatte ich aufgehört zu zählen, und das beständige Blitzen, dass wiederholt für wenige Augenblicke die Straße erhellte, wenn wir vorüberfuhren, war fortan kaum mehr als die simple Bestätigung der Tatsache, dass Evan viel zu schnell unterwegs war.

Als wir auf die Autobahn fuhren, wurde es besser, obwohl ich mir ziemlich sicher war, beizeiten etwas Blaulicht hinter uns erkannt zu haben.

Warum die Polizei aufgehört hatte uns zu verfolgen, war mir schleierhaft, wahrscheinlich war Evan schlichtweg zu schnell gewesen.

Als die Tachonadel über die Zweihundertmarke schritt, gab ich es auch auf, unsere Geschwindigkeit in Meilen pro Stunde umzurechnen. Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen.

Trotz der lebensmüden Geschwindigkeit, die Evan draufhatte, hielt er das Auto konstant auf der richtigen Seite der Straße und deshalb musste ich nicht wirklich um mein Leben fürchten.

"Sag mal", fragte ich irgendwann einmal müde, als selbst Apple Maps verstummt war, "wie kommt es, dass du noch nicht hinter Gittern bist?"

Evan drückte aufs Gas, als ein großer Bus vor uns auftauchte.

"Das Privileg eines erfolgreichen Rennfahrers", sagte er, aber ich war mir sicher, ein gewisses Maß an Bitterkeit in seiner Stimme erkannt zu haben. "Die meisten Polizisten, die mich aufhalten, wünschen mir ein gutes Rennen und ein Autogramm, dann lassen sie mich wieder in Ruhe."

"Bist du echt so berühmt?"

Wow, Lexi. Diese Frage lässt dich ziemlich oberflächlich wirken.

"Im Königreich am allermeisten."

"Königreich?"

Evan nahm einen Blick einen kurzen Moment von der Straße, bloß um mich genervt anzusehen. "Vereinigtes Königreich, auch als Großbritannien bekannt."

"Oh, jaah."

Inzwischen war die Sonne endgültig am Horizont verschwunden, und das letzte rosige Licht des Abends verwandelte die sanften Grashügel neben der Autobahn in ein Farbfeuerwerk.

Ich erhob mich ein wenig in meinem Sitz, um einen besseren Blick auf dieses hübsche Schauspiel zu haben.

Evan lachte leise. "Nur Amerikaner können von unserer Landschaft so beeindruckt sein."

Beleidigt drehte ich mich zu ihm um. "Hast du jemals unsere wunderschönen Wüsten gesehen? Oder Wälder? Sümpfe? Seelande? Eismeere?" Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. "Also ich würde schon sagen, dass der amerikanische Landschaftsstrich um einiges facettenreicher ist."

Als Antwort hob Evan bloß eine Augenbraue, aber ich war erleichtert, dass er nicht weiter auf meine Provokationen einging.

"Wir sind gleich da", sagte er.

Tatsächlich passierten wir in diesem Augenblick ein Straßenschild, dass die Abfahrt für London anwarb.

Zehn Kilometer, las ich. Waren das jetzt mehr oder weniger als zehn Meilen? Ich würde noch verrückt werden mit diesem metrischen System.

Es dauerte bloß wenige Minuten, bis Evan das Auto entgegen mehrerer Einbahnen auf den großen Platz vor dem Westminster gelenkt hatte.

Die schiere Größe des Rathauses ließ mich für ein paar Augenblicke das Atmen vergessen, und ich starrte sprachlos auf den Big Ben, der mit seinen perlmuttfarbenen Zifferblätter über den gesamten Platz zu wachen schien.

The Best ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt