Kapitel 1

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Jahr 73 der neuen Zählung

Algiar drehte nachdenklich den angekauten Bleistift zwischen den Fingern, während er zuhörte, wie seine Mutter im Nebenzimmer sprach. Sie schrien. Sie schrien sich schon wieder an. Warum schrien sie sich nur jedes Mal an? Algiar seufzte. Der Tisch an dem er saß war alt und an vielen Stellen zerkratzt. Ein paar Teller standen übereinandergestapelt dort. Algiar lief das Wasser im Mund zusammen, wenn er nur an das knusprige Hähnchen dachte, dass er am Mittag verspeist hatte. Nun war es schon bald Mitternacht und sein Magen knurrte. Das war er schon gewohnt und er hatte gelernt es zu ignorieren. Egal wie stark sein Körper protestierte. Der nette Wirt aus der Kneipe unter ihnen hatte das Hähnchen gekocht. In der heruntergekommenen Gegend war er der beste Koch weit und breit. Alleine kümmerte er sich um die Kneipe, seit seine Frau vor ein paar Jahren gestorben war. Algiar hatte nie verstanden, warum er nie wirklich traurig gewesen war. Er war auch im Gegensatz zu anderen Leuten hier meistens sehr gut gelaunt. Algiar mochte ihn wirklich sehr gerne. Vor allem, wenn er immer seine Geschichten erzählte. Geschichten von dem was in der großen weiten Welt passierte. Schon als kleines Kind hatte Algiar ihm immer gespannt zugehört und das hatte sich auch nicht geändert. Immer wenn der nette Wirt Zeit hatte, erzählte er ihm Geschichten. Eines schönen Abends hatte er von der Westwüste erzählt. Von der Westwüste und dem Krieg dort. Es war ein einziges Massaker und sollte sogar noch schlimmer sein, als hier beim Abschaum der Gesellschaft. Menschliche Soldaten kämpften gegen die  Sk'alvianer, einer Spezies, die sich dort niedergelassen hatte. Die Menschen wollten jedes Stück Land der Erde. Ihnen ging der Platz für ihre gigantischen Wolkenkratzer aus und die Zahl der Menschen stieg stetig. Die Sk'alvianer sollten eigentlich eine friedwilliges Volk sein. Das sagte der Wirt und Algiar glaubte ihm. Und das war nicht das einzige was der Wirt erzählte. Hier in der dreckigen Unterwelt wusste keiner, wie es außerhalb dieses Gebietes zu sich ging. Eigentlich waren sie hier von der restlichen Welt abgeschnitten. Wenn Algiar durch die Fenster sah, konnte er zwar in weiter Ferne die Wolkenkratzer sehen, doch niemand wagte sich dorthin.
Es gab einen lauten Knall und Algiar schreckte aus seinen Gedanken hoch. Milan hatte die Tür zugeschlagen, die Ess- und Schlafzimmer trennte und verließ die Wohnung schnaubend. Algiar wusste genau, worum sich er und seine Mutter gestritten hatten. Wie aus dem nichts war vor ein paar Wochen dieser Fremde Milan aufgetaucht. Er sah irgendwie seltsam aus. Niemand hier sah so aus wie er. Er hatte schwarzes, stark zurück gekämmtes langes Haar und stechend blaue Augen. Er trug einen dunkelgrauen Pelzmantel, was schon an sich ungewöhnlich genug war, denn er war sauber und sah sehr neu aus. Eins war klar. Er stammte nicht aus dieser Gegend hier. Vielleicht gehörte er sogar der Oberschicht an. Auf jeden Fall wollte er, dass Algiars Mutter und er umzogen. Weiter weg von den Wolkenkratzern sollten sie ziehen. Im Moment gingen Gerüchte um, dass die Gegend hier bald dem Erdboden gleichgemacht werden sollte, um mehr Platz für neue Hochhäuser zu machen. Algiars Mutter hielt das für Schwachsinn und ihr Sohn schloss sich ihr an. Die Oberschicht war noch nie so weit gegangen, die Unterschicht aus ihrer einzigen Unterkunft zu vertreiben. Menschen gegen Menschen? So etwas lag schon über hunderte von Jahren zurück. Nur was noch seltsamer an Milan war, dass Algiars Mutter oder er selbst ihn gar nicht kannten. Irgendetwas lag ihm an den Beiden. Algiar schob den Stuhl zurück und stand auf. Den Bleistift lies er liegen. Nun stürmte auch seine Mutter aus dem Zimmer. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Wangen gerötet. „Wieso kann uns dieser lästige Mann nicht einfach mit seinen Unheils-Prophezeiungen in Ruhe lassen?“ Sie fuhr sich mit der linken Hand durch ihr braunes Haar und versuchte es einigermaßen wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie setzte sich an den Tisch und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Algiar legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen.“,sagte er, „Und reg dich nicht zu sehr auf. Das wird sich schon alles klären.“ Er verließ die Wohnung und ging die knarrende Treppe eine Etage nach unten. Dort war eine vermoderte Tür, an der die Türklinke schon zu rosten begonnen hatte. Algiar öffnete sie und tastete nach dem Lichtschalter. Als das grelle Licht aufleuchtete, kniff er seine Augen zusammen. Die kleine Glühbirne, die locker an einem Kabel an der Decke hing, flackerte noch ein bisschen, doch dann schien sie gleichmäßig. Algiars Augen gewöhnten sich langsam an die Helligkeit. Der Raum war ein kleines Bad. Das einzige im ganzen Haus. Die Fliesen waren in einem hässlichen Grün. Auch das Waschbecken und das Klo waren in dieser Farbe. Algiar drehte den Wasserhahn ein bisschen auf und machte seine Hände nass. Anschließend wusch er sich das Gesicht und betrachtete sich einen Moment in dem Spiegel, der ein Stückchen schräg hing. Er fuhr sich durch sein blondes Haar, das er von seinem Vater geerbt hatte. Er hatte ihn nie gekannt. Die braunen klaren Augen hatte er von seiner Mutter. So bestand ein starker Kontrast zwischen seinen Augen und den Haaren, was ihn fast ein bisschen seltsam aussehen lies. Algiar machte das Licht im Bad aus und ging ein weiteres Stockwerk herunter. Stufe für Stufe wurden die Stimmen lauter. Nur noch die Tür trennte Algiar von der Kneipe. Er öffnete sie. Die Kneipe war angenehm weich beleuchtet, nicht so wie das Bad. Sie war nicht sehr groß. In einer Ecke stand der Tresen, hinter dem der Wirt gerade ein Glas abtrocknete. Ansonsten standen hier vier Stehtische und eine Eckbank. Die Kneipe war mehr als überfüllt. Dennoch hielt sich der Lärm in Grenzen. Die Stimmung war immer bedeckt von einer negativen Ausstrahlung. So war es normal. Man kannte es nicht anders. Algiar begab sich zum Tresen. Der Wirt bemerkte ihn sofort. „Wie geht’s dir?“,wollte er wissen. Algiar zuckte mit den Schultern. Der Wirt nickte. „Milan war wieder bei deiner Mutter, nicht wahr? Ich hab ihn vorhin hier durchgehen sehen.“ „Ja. Sie haben sich wieder angeschrien.“ „Hör mal! Wenn ihr nicht wollt, dass er euch weiter belästigt, bekommt er hier Hausverbot. Sag das deiner Mutter.“ Algiar bedankte sich. „Weißt du irgendwas von diesem Mann?“,wollte er noch wissen. Der Wirt biss sich nachdenklich und ein bisschen seltsam zurückhaltend auf die Unterlippe. Dann brachte er leise ein paar Worte hervor: „Hat dir deine Mutter nicht davon erzählt?“ Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Wovon erzählt?“ Algiar war verwirrt. Hatte seine Mutter ihm etwas verheimlicht? Bisher waren sie immer in allem offen zueinander gewesen und hatten sich alles erzählt. Ansonsten hätten sie auch nicht lange in dieser dunklen grauen Welt überlebt. Tagsüber war Algiar immer draußen unterwegs und versuchte sich als Tagelöhner durchzuschlagen. Währenddessen versuchte seine Mutter die Wohnung so gut wie möglich in Schuss zu halten. Das war keine gewöhnliche Hausarbeit. Immer wieder brachen morsche Dielen durch oder Regen tropfte durch die Decke. Einmal war sogar der Henkel eines Fensters abgebrochen. Und wenn es in der Wohnung nichts zu erledigen gab, half sie bei dem netten Wirt aus. Ihm hatten sie alles zu verdanken. Die Wohnung hätten sie gar nicht bezahlen können, wenn er nicht so nachsichtig mit den Beiden gewesen wäre. Der Wirt runzelte die Stirn und räusperte sich kurz. „Sie … sie hat es dir wirklich nicht erzählt?“,wiederholte er erstaunt. Algiar wurde ungeduldig und fragte noch einmal ein bisschen lauter: „Was soll sie mir denn erzählt haben?“ „Dieser Milan wird immer geheimnisvoller.“,sagte der Wirt eher zu sich selbst als zu Algiar. „Klär mich doch bitte auf!“,flehte Algiar. Die nachdenklich Stimme des Wirts wurde wieder lauter: „Nun gut. Ich will es dir verraten! Aber nur unter einer Bedingung!“ „Und die wäre?“ „Erzähl nicht deiner Mutter davon, dass ich dir das hier gesagt habe. Aus irgendeinem Grund hält sie das vor dir geheim.“  Algiar nickte zögerlich. „Also schön. Deine Mutter kannte diesen Mann schon bevor er kam und von dem Abriss dieses Stadtteils berichtete.“ Algiar stockte der Atem. Wie war das nur möglich? Der Wirt fuhr fort, während er mich genau musterte: „Was glaubst du denn, warum sie ihn überhaupt in die Wohnung gelassen hat? Sie würde doch niemals irgendeinen dahergelaufenen Idioten in ihr Schlafzimmer lassen! Es ist ein alter Freund deiner Mutter gewesen, als sie noch zur Schule ging.“ „Schule?“,fragte Algiar verdutzt. Seine Mutter war nie zur Schule gegangen. Das hatte sie zumindest erzählt. Algiar selber auch noch nie. Diese Gebäude, die sich „Schule“ nannten, waren alle irgendwo hinter den riesigen Wolkenkratzern verborgen. Deshalb hatte Algiar nie eine gesehen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mutter zur Schule gegangen war. „Ja wirklich. Sie ist als Kind zur Schule gegangen.“ Der Wirt schaute Algiar forschend an. „Das kann ich nicht glauben.“,stotterte er. Der Wirt versicherte: „Es ist die Wahrheit.“ „Was weißt du noch?“ „Das war schon alles. Mehr hat mir deine Mutter auch nicht gesagt...“ Algiar wurde nachdenklich. Warum hatte seine Mutter ihm das verschwiegen. Plötzlich riss er sich aus seinen Gedanken und wollte gerade gehen. Auf dem Weg in die Wohnung. Er wollte das alles jetzt klären. Doch der Wirt rief seinen Namen und Algiar kam wieder zurück um ihn anzuhören. „Denk an dein Versprechen!“,ermahnte er ihn. Algiar seufzte und lies die Schultern hängen. Dann nickte er. Niedergeschlagen ging er nun nach oben. Seiner Mutter erzählte er nichts von dem was er erfahren hatte. Er musste sein Versprechen halten. Doch er wollte mehr erfahren.
Als Algiar schließlich ins Bett ging war es schon zwei Uhr geworden. Seine Mutter schlief schon tief und fest. In der Dunkelheit der Nacht kam ihm eine Idee. Er musste grinsen. Er würde dieses Geheimnis aufdecken, was seine Mutter mit sich trug … Unbedingt!

Im Schatten der grauen RiesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt