Ich versteife mich und reiße den Kopf herum. Blaue, verschleierte und doch strahlende Augen blicken mich an. Sofort fallen noch mehr Tränen aus meinen Augen.
„Du lebst! Du lebst und bist wach! Du bist wach!", wiederhole ich fassungslos und stürze mich in seine Arme. Schluchzend vergrabe ich mein Gesicht an seinem Hals und atme seinen natürlichen Geruch ein.
„Natürlich lebe ich. So leicht wirst du mich nicht los, Babe", keucht er. Ich liege wohl ein wenig zu schwer auf seiner Brust. Sofort verlagere ich mein Gewicht und gebe die Sicht auf Christian frei.
„Chris?", fragt Chase entsetzt.
„Na, hast du mich vermisst, kleiner Bruder?", fragt Christian.
„Weißt du, ich habe dich seit Jahren nicht gesehen, war im Koma und das ist deine erste Reaktion?", fragt Chase.
„Na ja, du kennst mich doch", antwortet er. Ein Stechen durchzuckt meinen Bauch. Scharf ziehe ich die Luft zwischen den Zähnen durch, aber keiner hört es, weil die Jungs lautstark „streiten".
„Leute, ich glaube wir haben ein größeres Problem", sage ich. Sofort richten sich alle Blicke auf mich. Ein Krampf durchzieht mich und ein Stöhnen dringt über meine Lippen. Ich stehe neben Chase' Bett und sehe an mir herunter. Meine Cremefarbene Hose färbt sich blutrot. Weil ich blute.
„Scheiße", schreit Christian.
„Jessica, hörst du mich?", fragt Bea. Ich habe sie schon fast wieder vergessen. Ich richte meine Blicke auf sie.
„Du darfst jetzt nicht in Panik geraten, verstanden? Das schadet nur dir und den Zwillingen", sagt sie ruhig. Ich verkrampfe wieder. Christian drückt Chase Rosalie in die Arme und rennt auf den Flur.
„Hilfe! Wir brauchen hier Hilfe!", höre ich seine Stimme. Offenbar schiebt er Panik wegen dem ganzen Blut. Mehrere Personen in weiß stürmen in den Raum und wollen mich von dem Krankenbett neben mir wegdrängen. Doch ich lasse Chase' Hand nicht los. Also schieben sie ein weiteres Bett neben seines und platzieren mich darauf. Eine Ärztin schickt Christian auf die andere Seite von Chase, legt eine Decke über mich und zerreißt meine Hose.
„Tut mir ehrlich leid für die schöne Hose, aber alles andere würde zu lange dauern", sagt sie entschuldigend.
„Ist doch jetzt egal! Kümmern Sie sich lieber mal um meine Verlobte und unsere Babys", ruft Chase verzweifelt. Sie tastet mich dort unten ab und fordert ein Ultraschallgerät an. Ein anderer Arzt macht den Ultraschall, während sie weiter tastet.
„Die Kinder liegen in der richtigen Position für die Geburt und das erste liegt bereits im Becken. Die Babys kommen", sagt der Mann neben mir.
„Das kann nicht sein. Das ist viel zu früh. Ich bin doch erst in der 25. Woche", wimmere ich.
„Es ist zu spät. Sie müssen bei den kommenden Wehen versuchen die Kinder herauszupressen", sagt die Ärztin.
„Wir können die Geburt nicht mehr abbrechen", sagt Bea.
„Jessica. Du kannst das, ja? Du hast auch Rose auf die Welt gebracht. Also kriegst du die beiden auch hin." Ich nicke verzweifelt. Bei jeder Wehe versuche ich meine Schmerzensschreie zu unterdrücken, weil ich weiß, dass es Christian und vor allem Chase weh tut mich leiden zu sehen.
„Komm schon, Babe. Ich bin hier. Wir schaffen das gemeinsam", sagt mein Verlobter, setzt sich auf und nimmt mein Gesicht in seine Hände.
„Wir kriegen das gemeinsam hin, Babe."
„Gemeinsam", flüstere ich und presse die Lippen fest aufeinander, weil ich sonst geschrien hätte. Stattdessen hört man nur ein leises Wimmern. Fast verzweifle ich, weil ich jedes Mal presse, es aber meiner Meinung nach nichts bringt. Keines der beiden kommt durch.
„Babe", haucht Chase.
„Entspann dich. Du selbst verhinderst, dass sie durch kommen. Lass locker."
„Ich kann nicht", heule ich. Also drückt er seine Stirn an meine und sieht mir in die Augen.
„Bitte, Babe. Wenn du dich nicht entspannst, können sie nicht raus und sterben vielleicht. Ich liebe dich, Jess", sagt er. Ich entspanne mich schließlich doch und presse beide irgendwie da durch.

Keine Schreie. Leben sie überhaupt?
„Leben sie?", frage ich leise.
„Ja, Miss Summer. Sie haben zwei wunderbare, starke Kämpfer auf die Welt gebracht. Beide leben, doch wir bringen sie jetzt in einen Brutkasten auf die Intensivstation. Sie sind noch zu klein, um ohne Hilfe leben zu können", antwortet der Arzt, der den Ultraschall beobachtet hat. Ich verkrampfe mich wieder. Brutkasten. Intensivstation.
„Was, wenn die beiden nicht leben?", frage ich Chase.
„Dann ist das auch kein Weltuntergang für mich. Ich werde dich trotzdem lieben. Und ich würde dich dann trotzdem heiraten", antwortet er immer noch Kopf an Kopf mit mir.
„Aber was ist mit mir? Würde ich diesen Schmerz ertragen können?", flüstere ich.
„Du bist unfassbar stark, Jess. Außerdem musst du diesen Schmerz nicht alleine tragen. Ich bin bei dir. Selbst wenn du versuchst mich von dir zu stoßen, Babe, ich bin deine Klette. So schnell wirst du mich nämlich nicht los", flüstert er und drückt seine Lippen endlich auf meine. Christian hat Rose auf dem Arm, neben ihm Bea und beide starren uns beide an. Besonders mich.
„Chase, ich kann das nicht. Ich kann einfach nicht. Diese Ungewissheit ob sie überleben oder nicht. Ich halte das nicht aus, Chase", wimmere ich.
„Besonders nicht, wenn du wieder ins Gefängnis zurück musst", wimmere ich.
„Ruhig, Babe. Chris ist Anwalt. Ein Spitzenanwalt. Er wird mich bestimmt aus dem Schlamassel holen", flüstert Chase beruhigend auf mich ein.
„Weißt du, ich studiere momentan eigentlich selbst Jura. Also kann ich dir schon selbst sagen, dass es schwierig werden könnte dich da raus zu boxen", sage ich und schniefe.
„Welcher Schlamassel, Chase?", fragt Christian und kommt näher.
„Nur ganz vielleicht haben meine Jungs und ich eine junge Frau vergewaltigt und sie ermordet. Einen Zeugen ebenso erschossen. Die zweite Zeugin eingesperrt und ich habe sie dann vielleicht vergewaltigt", sagt er und weicht den Blicken seines Bruders aus.
„Was ist mit der Zeugin passiert?", fragt Chris.
„Die Zeugin ist auch nur ganz vielleicht direkt vor deiner Nase", flüstere ich mit kratzender Stimme. Sofort weiten sich seine Augen und fast hätte er Rosalie fallen lassen, wenn Beate sie nicht aus seinem Arm genommen hätte.
„Dann bist du diese ominöse Zeugin? Dann sind die Zwillinge gar nicht freiwillig entstanden? Wie lautet dein richtiger Name, Jessica Summer?", fragt er.
„Ja, ich bin die Zeugin, habe vor Gericht aber nie gegen die Jungs ausgesagt. Die Zwillinge ... waren unfreiwillig, ja. Aber wir lieben uns dennoch. Und unsere Kinder ebenso. Meinen echten Namen würde ich dir nicht verraten. Umso weniger Menschen von dieser Frau und ihrer Tochter wissen, umso besser für unser künftiges Leben. Denn diese Frau und ihre Tochter sind tot, auch wenn man ihre Leichen nie gefunden hat. Ich hoffe du verstehst das", sage ich.
„Natürlich verstehe ich das, Jessica. Ich soll dich also aus deiner Scheiße ziehen, die du schon wieder veranstaltet hast?", fragt er Chase leicht wütend.
„Chris, bitte. Ich verstehe, dass du wütend auf mich bist, weil ich schon wieder Scheiße gebaut habe. Aber dieses Mal ist es nicht für meinen Arsch, sondern für meine Verlobte. Ich bitte dich, Bruder", sagt Chase mit glänzenden Augen. Ich hebe meine Arme, lege sie um seine Brust und ziehe ihn fest an mich und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals. Dort fange ich wieder an zu weinen.
„Baby? Was ist denn los?", fragt er besorgt und streichelt über meinen Kopf. Ich antworte nicht, sondern ziehe ihn noch fester an mich. Jetzt legt auch er seine Arme um mich und hält mich fest.
„Bitte sagt mir, dass das alles nur ein schlechter Traum ist", wimmere ich.
„Es ist leider kein Traum, Babe", sagt Chase mit belegter Stimme. Ich schluchze auf und presse die Augen noch fester zusammen.
„Lass Chase los, bevor du ihn erdrückst. Du könntest ihm weh tun oder ihn verletzen", sagt eine sanfte Stimme hinter mir. Beate. Nein warte, Beate's Stimme klingt anders. Ich löse mich leicht von meinem Verlobten und werfe einen Blick hinter mich. Neben Chris steht eine hübsche Frau. Ich drehe mich wieder zu ihm und presse mein Gesicht wieder an seine warme, weiche Haut.
„Hey Chloé", sagt Chase.

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1320 Wörter!

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