Eine Reise ans Meer

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„Charlotte. Charlotte!" Die junge Frau hob den Kopf als sie die Aufregung in der Stimme ihrer jüngeren Schwester hörte. „Ein Brief für dich!", rief diese und legte ihr eilig den feinen weißen Umschlag auf den noch leeren Frühstücksteller. Charlotte hatte bisher nur an ihrem Tee genippt, zu übel war ihr bei der Vorstellung gewesen am Nachmittag einen weiteren der jungen Männer zu treffen, den ihre Eltern in den letzten Moment dezent, aber eindeutig zum Spazieren oder auf einen Tee eingeladen hatten. Sie war im heiratsfähigen Alter und ihre Eltern wollten sie versorgt wissen. Sicher, es war keiner von ihnen von schlechtem Charakter, unansehnlich oder dumm, aber sie brachte es dennoch nicht über sich einem von ihnen Hoffnung zu machen, wenn sie sich selbst so wenig aus ihnen machte.
Wann immer sie auch nur daran dachte, sah sie vor ihrem inneren Auge nur den letzten Blick des Mannes, den sie vor einem Jahr an den Klippen von Sanditon zuletzt gesehen hatte. Sidney Parker war mit der reichen Mrs. Campian verlobt und ihr Vermögen sollte seinen Bruder vor dem Untergang bewahren. Charlotte hatte noch vor beinahe einem Jahr am Abend des Mittsommerballes auf eine Frage gehofft, die ihr dann jedoch nie gestellt worden war und nun für immer verwehr sein würde. Edward Denham, der Stiefbruder von Esther, der heutigen Gemahlin von Lord Babington, hatte für Unruhe gesorgt als er vor der versammelten Gesellschaft seine Schwester bedrängt und eine Erwiderung seiner in Wahrheit unehrlichen Liebe zu ihr, gefordert hatte. Mr. Parker war von der alten und vermögenden Lady Denham angewiesen worden ihn nach London zu schaffen, doch eher er zu Charlotte zurückkehren konnte, war ein Feuer ausgebrochen. Obwohl viele Hände bis zum nächsten Morgen löschten, waren die von Tom Parker geplanten Neubauten für die Gäste des von ihm als Badeort, auch für die feine Gesellschaft, beworbenen Sanditon verloren. Mr. Parker war nicht versichert gewesen und seinem Bruder war es nicht gelungen in London die benötigten 80.000 Pfund aufzutreiben. Bei seiner Rückkehr hatte er nicht sein Gespräch mit Charlotte auf dem Balkon des Ballsaals fortsetzen können, sondern hatte ihr eröffnet, dass er sich mit der vermögenden Eliza Campian verlobt hatte. Er hatte es für seinen Bruder getan und auch wenn Charlotte die Ausweglosigkeit in seinen Augen geglaubt hatte, so war dies nun schon lange her und sie wusste, dass er Mrs. Campian geliebt hatte. Daher öffnete sie den Umschlag mit sehr gemischten Gefühlen als sie die Handschrift von Tom Parkers Ehefrau Mary Parker erkannt hatte. Sie ihr schrieb ihr nicht allzu häufig, vermutlich da in Sanditon viel zu tun war und sie Charlotte schonen wollte mit Gedanken an die Sommertage dort. In Willingden war sie scheinbar unendlich fern und unsicher darüber, ob sie je zurückkehren konnte und wollte. Fein und liebevoll, wie es das Wesen der Frau von Mr. Parker war, zogen sich die Tintenzeichen über das Blatt. Charlotte las sie bedächtig, als wäre jedes Wort kostbar und doch musste sie den Inhalt ein zweites Mal studieren, um sich gewiss zu sein, dass sie keinem enttäuschenden Missverständnis erlag. „Von wem ist der Brief Liebes?", erkundigte sich ihre Mutter und nahm einen kleinen Schluck aus ihrer Tasse. Charlotte begannen Bilder des letzten Sommers durch die Gedanken zu ziehen. Der Strand, die Küste, die Stadt, Bälle und all die Menschen. Das alles wurde mit einem Mal wieder zu mehr als einem bloßen Traum. „Aus Sanditon", antworte sie und versuchte die Botschaft ganz zu begreifen, sich zu sammeln mit all den Gefühlen, die die vergangenen Bilder mit sich brachten. Sie lächelte.
„Mr, Tom Parker eröffnet Sanditon mit einem Mittsommerball offiziell als Seebad."
Also hatte Sidney Parker seinen Bruder und dessen Visionen tatsächlich retten können.
Bis zuletzt war ungewiss gewesen, ob der Wiederaufbau und damit die Eröffnung bis zum Sommer gelingen würde. „Sie laden mich ein sie zu diesem Anlass zu besuchen", fuhr Charlotte fort und spürte Hoffnungen und Sorgen in sich aufsteigen. Ihr Vater schloss zum ersten Mal seit dem Morgengruß sein Buch. „Du bist nicht gerade erholt von dort zurückgekommen", stellte er nüchtern fest. Seine Brauen bildeten eine ernste Linie.
„Ich habe dich gewarnt Kind, in den Seebädern geht es anders zu." Charlotte wusste, dass er Recht hatte, doch sie erhob dennoch die Stimme: „Gewiss ist es anders, doch es war ein Erlebnis und die Parkers waren stets gut zu mir Vater. Wie gerne wäre ich dabei, wenn Mr. Parkers Traum von einem gerühmten Badeort nun doch in Erfüllung geht. Er hat stets so viel Energie hineingesteckt." Zum ersten Mal seit langer Zeit strahlten ihre Augen wieder wie früher voll ungestümer Fröhlichkeit. Die Freude darüber all die Menschen, besonders die Familie Parker, die ihr in dem Küstenort ans Herz gewachsen waren, wiederzusehen, überwog zumindest für den Moment die Sorge, Sidney mit der neuen Mrs. Parker an seiner Seite zu begegnen. Mary Parker hatte ihr in ihrem ersten Brief nach ihrer Abreise geschrieben, dass Sidney verreist sei wegen Geschäften und um Mrs. Lambe nach Antigua zu bringen, wie diese Charlotte von dort ebenfalls mitgeteilt hatte. Sie war nun glücklich mit Otis Molyneux dort verheiratet. Sidneys Hochzeit war durch die Reise verschoben, aber nicht aufgehoben worden. Mary hatte in ihren folgenden Briefen darauf verzichtet Sidney zu erwähnen. Aber Charlotte würde ihm die Stirn bieten, tanzen und sich mit den anderen eine gute Zeit dort verbringen. Vorausgesetzt ihr Vater erlaubte es ihr. „Der Prinzregent wird dort sein", meinte sie an ihre Mutter gewandt, „und wäre es nicht ganz und gar unhöflich ihre Einladung abzulehnen?"
Ihre Mutter war weniger streng als ihr Vater, der noch immer die Stirn runzelte. Sie aber stellte ihre Tasse mit leisem Klirren ab, als sie die Freude in Charlottes Augen sah, seufzte vernehmlich und ergeben. Erwartungsvoll warf sie ihrem Mann einen deutlichen Seitenblick zu. „Nun", Charlottes Vater legte das Buch auf den Tisch, „das wäre es vermutlich tatsächlich. Du wirst sonst ohnehin nichts anders tun als daran zu denken, wenn wir dich nicht fahren ließen." Charlotte strahlte und ihre Schwester blickte so aufgeregt als würde sie und nicht Charlotte zum Mittsommerball nach Sanditon fahren. „Danke Vater", sagte Charlotte so ruhig wie sie es mit klopfendem Herzen vermochte und küsste ihn auf die Wange. „Ich werde gleich packen. Es wäre noch unhöflicher sich zu verspäten."

Zu Charlottes Glück würde am selben Tag noch die Postkutsche Willingdon passieren und so blieb der jungen Frau das fragwürdige Vergnügen des Herrenbesuches erspart. Sie nahm Abschied von ihrer Familie und brach nach Süden zum Meer auf. Die Reise würde ein wenig dauern und so blieb ihr genügend Zeit, sich innerlich auf das Kommende vorzubereiten, wobei sie im Geiste alles durchging, was Mary ihr in ihren Briefen berichtet hatte.
Es war schön die grüne Landschaft auf den einfachen Landstraßen zu durchqueren,
auch wenn die Kutsche dadurch eher unruhig voran holperte. Vieles erinnerte sie dabei an ihre erste Reise nach Sanditon mit dem Parker Ehepaar. Stets hatte sie gehofft, aber sich darauf nie verlassen, den Küstenort, die Menschen und das blaue Meer wiederzusehen.
Bei den Gedanken an all das huschte ihr ein Lächeln über das Gesicht. Bald glaubte sie schon die mild salzige Luft wahrzunehmen und je mehr es um sie zu dämmern begann, je näher sie dem Ziel kamen, umso erwartungsvoller und gespannter wurde sie. Die Laternen brannten bereits als sie endlich ankamen und wie Rauch stand der warme Dampf vor den erschöpften Pferden. Charlotte stieg mit den anderen Reisenden aus und sah sich um. Anders als auf dem Dorf, von wo sie aufgebrochen waren, herrschte hier trotz der späten Stunde noch reger Betrieb. Natürlich waren ihr die meisten Gesichter fremd, doch umso mehr fiel Charlotte eine vertraute Gestalt sofort ins Auge, obwohl der junge Mann mit dem Rücken zu ihr stand. „Mr.Stringer!", rief sie freudig und rannte fast undamenhaft schnell auf den Bekannten zu. Als dieser seinen Namen hörte, blickte er sich suchend um und als er Charlotte auf sich zu eilen sah, war sein Bick Erstaunen und Freude zugleich. „Mrs.Heywood." Etwas unsicher wie sie sich begrüßen sollten, verharrten beide einen Moment voreinander. Mr. Stringer hatte Charlotte einmal mehr als gerne gehabt, doch für sie war er stets ein Freund gewesen.
„Mr. Parker erwähnte, dass er Sie bitten würde zu kommen, aber Sie wahren wahrhaftig schneller als der Wind." Er war der erste der die Ungewissheit brach und ihr die Hand reichte. „Kommen Sie, ich bringe Sie zu den Parkers." Während sie durch die abendlichen Straßen schritten, die Charlotte schnell wieder halfen sich zu orientieren, erzählte Mr. Stringer ein wenig vom Wieder- und Neubau der Gebäude für die hoffentlich bald zahlreichen Gäste. Schon bald standen sie vor dem weißen Stadthaus der Parkers und noch eher Charlotte läuten konnte, öffnete Mr. Parker schwungvoll die Tür. Er hatte am Fenster gestanden, den Blick gedankenversunken auf die neuen Häuser gerichtet, doch als er Charlotte bemerkt hatte,
war er hastig die Treppe hinabgekommen. „Mrs.Charlotte Heywood", er deutete eine freundschaftliche Verbeugung an, „wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten."
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite Mr.Parker", erwiderte Charlotte und senkte ebenfalls leicht den Kopf. „Mr.Stringer", Tom Parker nickte dem Baumeister zu. Dieser erwiderte die Geste. „Guten Abend Mr. Parker. Ich sehe Sie dann morgen und Sie auch Mrs.Heywood?" „Sie müssen Charlotte!", sagte Tom Parker enthusiastisch. Sie lächelte. „Aber natürlich. Schließlich bin ich neugierig zu sehen, wie alles nun aussieht. Ich freue mich sehr für sie, dass alles nun doch gelungen ist." Auf Mr, Parkers Gesicht stand der ehrliche Stolz eines Mannes, dem es nach vielen Schwierigkeiten und Mühen letzten Endes doch gelungen war, seine angestrebten Ziele zu erreichen. „Dann also bis morgen. Schlafen Sie wohl", verabschiedete Mr. Stringer sich und hob seinen Hut. „Gute Nacht Mr.Stringer", rief Charlotte ihm noch nach, ehe sie Tom Parker in das nobel eingerichtet Haus folgte.
Es war kein Palast, aber teurer ausstaffiert als alles, was sie sonst gewohnt war. In dem gemütlichen Wohnzimmer saß Mary, Tom Parkers Frau und stickte. „Charlotte", rief sie als sie die junge Frau eintreten sah und umarmte sie herzlich. „Es ist uns eine Freude, dass Sie so schnell kommen konnten." „Wie hätte ich Ihre Einladung ablehnen können?", meinte Charlotte fröhlich. Es war schön gewesen die beiden Männer wiederzusehen, aber Mary war ein Mensch, der eine solche Herzlichkeit ausstrahlte, dass man sich in ihrer Gegenwart direkt wohl und zu Hause fühlte. Sie war zurück.

Sanditon-Die RückkehrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt