Der Mittsommerball

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Charlotte war sehr froh darüber, dass Lady Susan am Abend auch anwesend sein würde.
Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Ball wurde ihr zunehmend unwohl und trotz ihrem starken Willen, war sie zögerlich als sie sich in der Dämmerung bei Kerzenlicht die dunklen Haare hochsteckte, das blaue Kleid und den Schmuck des vergangenen Mittsommerballs anlegte. Die raschen Umstände ihrer Reise und die finanziellen Mittel hatten eine neue Abendgarderobe nicht ermöglicht, was die Unsicherheit in ihr nicht gerade schmälerte.
Doch die blauen Schuhe ließen sie leicht Lächeln und erinnerte sie an die Tänze, die sie auf den Bällen im letzten Jahr darin erlebt hatte. Unter reichen Menschen, als ein Mädchen aus Willingden. Sie wartete noch einen Moment am Fenster ihres Zimmers auf die Ankunft der Kutsche. Die Parkers waren schon nach unten gegangen, doch Charlotte wollte noch einen Moment für sich allein sein. Nervös drehte sie ihre Handschuhe in den Händen und versuchte sich auf die bevorstehende Musik und die Tänze in großer Runde zu freuen, aber kein Gefühl der Vorfreude konnte die angespannte Unruhe in ihrem Herzen lösen.
„Charlotte." Mary Parker, schön wie ein warmer Spätsommertag, trat ein, um nach Charlotte zu sehen. „Ich komme." Charlotte straffte die Schultern und zog die feinen Handschuhe über. „Sorgen Sie sich nicht wegen des Kleides. Es steht Ihnen wunderbar", sagte Mary ermutigend. Die junge Frau erwiderte ihr Lächeln dankbar und Seite an Seite schritten sie die Treppe hinab. Der Weg zum Festsaal war nicht weit und vielleicht war es gut, dass Charlotte so keine weitere Zeit für ihre Gedanken blieb. Das große, weiße Gebäude, vor dem die Kutsche hielt war hell erleuchtet und den Ankommenden klangen Musik und Gelächter entgegen. Tom Parker erwarte sie auf der Treppe und war so begeistert über jeden Londoner, den er entdeckte, dass er fast vergaß seine Familie und Charlotte ebenfalls zu begrüßen.
Im Festsaal herrschte noch mehr Trubel, getaucht in golden schimmerndes Licht, das vielfach glitzernd von teuren Steinen an Kronleuchtern und edlen Gästen gespiegelt wurde.
Beim Klang der fröhlichen Geigen, fasst Charlotte neuen Mut. Sie wollte tanzen und das würde sie, gleich wem sie begegnen würde. Mr. Stringer kam ihr entgegen, der als stolzer Baumeister auch auf diesem Ball anwesend war. „Mrs. Heywood", er deutete eine Verbeugung vor ihr an, „erlauben Sie mir zu sagen, dass sie bezaubernd aussehen."
Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Ich danke Ihnen Mr. Stringer, doch erlauben Sie mir zu erwidern, dass sie sehr elegant aussehen." Der junge Mann musterte erfreut und mit bescheidenem Stolz seine neue Weste. „Ich werde ein gemachter Mann sein Mrs. Heywood." Er bot ihr seinen Arm an und gemeinsam gesellten sie sich in den Kreis, der sich um Tom Parker bildete. „Sanditon wird ein Erfolg werden und da meine Arbeit hier getan ist, werde ich nun nach London gehen, um Architekt zu werden." Allmählich verebbten die Gespräche und die Aufmerksamkeit wandte sich dem Ausrichter der Veranstaltung zu. Charlotte musste sich einfach mit dem jungen Mann freuen. „Ich gratuliere Ihnen. Es ist fantastisch, dass Sie Ihre Träume verwirklichen", flüsterte sie ihm halblaut zu, ehe Mr. Parker mit stolzer Brust und strahlenden Augen die Stimme erhob: „Hochverehrter Prinzregent, König unseres wunderbaren Landes, geschätzte Ladys und Gentleman, Damen und Herren, liebe Freunde von Sanditon, es ist mir eine große Ehre und Freude, dass Sie heute Abend hier in Sanditon erschienen sind." Den Badeort rief er besonders schallend aus und es war unvermeidlich Anteil an dem freudig erfüllten Stolz dieses Mannes zu nehmen. Charlotte versuchte allein seiner enthusiastischen Rede zu folgen, doch ihre Augen wanderte immer wieder zu all den fremden Gesichtern der feinen Londoner Gesellschaft, gehüllt in teure Stoffe und geziert mit schimmernden Perlen und Diamanten. So vielen vornehme Menschen war sie noch nie auf einmal begegnet, nicht mal als sie mit den Parker Brüder selbst in der Hauptstadt gewesen war, denn an diesem Abend in Sanditon waren sie durch die Anwesenheit des Prinzregenten alle versammelt statt sich auf verschiedenen Festen zu zeigen. Dabei hoffte sie, ohne sich darüber ganz im Klaren zu sein, in all der Pracht nur die dunkle Weste und die Gestalt von Sidney Parker zu erkennen. „Der Weg bis hierher war nicht leicht", fuhr Tom Parker fort und seine Miene wurde ernster, „Vor einem Jahr glaubten wir kurz vor der Vollendung unserer Pläne zu stehen, doch alle Mühen fielen einem grausamen Feuer zum Opfer, das nicht nur Gebäude, sondern vor allem auch kostbare Menschenleben gekostet hat."
Bei dem Gedanken an die Flammen, die vor einem Jahr gelodert hatten, legte sich eine Weile betroffene Stimmung auf die Gemüter. „Jedoch", Mr. Parker wollte seine Gäste wieder in die Heiterkeit des heutigen Anlasses zurückholen, „es ist uns gelungen mit vielen erneuten Mühen und Herzblut, unter Einsatz vieler treuer und starker Hände die Gebäude für Sanditon und Sie, verehrte Gäste neu und noch schöner als zuvor zu errichten."
Erstes Klatschen hob an, doch Tom Parker brachte es mit einer deutlichen Geste zum Verstummen. „Dafür schulde ich neben all den tapferen Arbeitern, und einem mit mir sehr geduldigen Baumeister, vor allem einem Mann Dank, ohne den dies alles eine Vision geblieben wäre." Er musterte die Gesichter und als er das des Mannes entdeckte hatte, von dem er sprach, sah er ihn fest und berührt zugleich an. „Sidney Parker, mein lieber Bruder, ich danke dir für deine Geduld und alles, was du für mich geopfert und getan hast, für alles, was du uns ermöglicht hast." Nun begann er selbst zu klatschen und die versammelte Gesellschaft stimmte mit ein. Tom winkte seinen Bruder zu sich, aber Sidney Parker war kein Mann, den es in den Mittelpunkt zog. „Also, genießen Sie den Abend und erheben Sie mit mir Ihr Glas auf das Wohl und den Erfolg von Sanditon." Mr. Tom Parker erhob ein Kristallglas mit schimmernder Flüssigkeit, welches ihm jemand reichte und erneut wurde geklatscht, während die Musiker zum Tanz zu spielen begannen. Das Parker Ehepaar fasste sich an den Händen und Tom wäre beinahe vor Euphorie gestolpert als der Prinzregent selbst sich ihnen mit Lady Susan anschloss. Elegant begannen sie sich im Kreis zu drehen und bald folgten ihnen weitere Gäste. Auch Charlotte willigte gern ein, als Mr. Stringer sie aufforderte und während sie sich vom schneller werdenden Rhythmus der fröhlichen Musik mit den anderen durch den Saal tragen ließen, vergaß sie für wundervolle Augenblick alles andere. Außer Atem entschuldigte sie sich nach einigen ausgelassenen Tänzen bei Mr. Stringer und trat an den Rand der Gesellschaft, um etwas zu trinken.
„Mrs. Heywood." Krampfhaft schlossen sich ihre Finger um das Kristallglas, in dem die goldene Flüssigkeit perlte. Sie wandte sich um und blickte nach einem langen Jahr zum ersten Mal wieder in die dunklen Augen des Mannes, dessen Begegnung sie erwartet und zugleich gefürchtet hatte. „Mr. Parker." Ihr Stimme klang kühler als sie beabsichtigt hatte.
Eine Weile standen sie sich nur gegenüber und alles, was gewesen war, stand wie eine Dornenhecke zwischen ihnen.
„Sidney." Mrs. Campian trat an die Seite ihres zukünftigen Mannes und ergriff seinen Arm. Ihre hellblauen Augen schienen Charlotte niederdrücken zu wollen, doch die junge Frau hielt stand. „Gute Abend Mrs.Campian", brachte sie so stolz sie konnte hervor, „entschuldigen Sie mich." Trotz der Stärke, die sie hatte ihnen in die Augen zu schauen, hielt sie es nicht länger in ihrer Nähe aus. Mit aller Macht versuchte sie die Eile in ihren Schritten zu unterdrücken und verließ den Saal auf einen der Balkone. Kühle Nachtluft, so anders als die von Parfums im Ballsaal so schwere Wärme, schlug ihr entgegen und gierig wie einen Trank, der alle Unruhe und Schmerzen tilgte, sog sie diese ein. Sie schloss die Augen, fühlte ihr Herz schnell und heftig schlagen. Charlotte musste mit den Tränen kämpfen und fuhr sich hastig mit den Handschuhen über die Augen als sie Schritte hinter sich hörte.
Es war Esther, Lady Babington, die ihre kühle Eleganz gewahrt hatte und doch um einiges mehr Freundlichkeit als vor ihrer Ehe mit Sidney Parkers Freund ausstrahlte. Das Mitgefühl in ihrem Blick war nicht aufgesetzt und schweigend trat sie neben Charlotte an die Balkonbrüstung. Die junge Frau versuchte sich wieder ganz ruhig zu geben und meinte mit noch halb erstickter Stimme: „Ich gratuliere Ihnen Esther. Sie müssen sehr glücklich sein." Die Lady lächelte leicht „Es war kein einfacher Weg bis hierhin, doch am Ende kam alles, wie es wohl kommen sollte." Charlotte spürte neue Tränen in sich aufsteigen und wandte den Blick ab. „Sidney Parker war wirklich eine lange Zeit fort", bemerkte Esther und sah nach oben in die Sterne. „Mrs. Campian ist sehr geduldig oder aber sehr stur." Sie reichte Charlotte ein Taschentuch, während sie fortfuhr, „immerhin musste sie die Langeweile nicht in Einsamkeit ertragen. Mein Bruder kann sehr hingebungsvoll sein, wenn es zu seinem Vorteil ist." Erstaunt sah Charlotte sie an. „Hat Mrs. Campian denn nicht große Teile ihres Vermögens in den Wiederaufbau von Mr. Parkers Gebäuden fließen lassen?"
Lady Bagingtons Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Womöglich hätte sie dies getan, wären Sie und Sidney Parker bereits verheiratet, aber vor einer Ehe wage ich zu bezweifeln, dass Sie auch nur ein Stück Ihres Reichtums geben würde, jedenfalls nicht, wenn es um Visionen von noch kleinen Seebädern geht." „Aber wie..." Charlotte kam nicht dazu die Frage, die sich ihr aufdrängte auszuformulieren, denn Esther fuhr fort: „Selbst meine Tante ist großzügiger. Sie hat Tom Parker geholfen, was Edward natürlich gar nicht gefallen hat." „Und auch ich habe ihn gerne unterstützt." Ein Mann mit kurzen braunen Locken trat zu ihnen nach draußen und küsste seine Gemahlin zärtlich. Charlotte lächelte, die beiden sahen so glücklich miteinander aus und doch musste sie aussprechen, was ihr noch keine Ruhe ließ: „Verzeihen Sie, aber trotz der gewiss großzügigen Unterstützung von Ihnen und Lady Denham, wie hat Mr. Tom Parker genug Geld für seine Schulden und den Wiederaufbau aufbringen können? Es ging um solch eine immense Summe."
„Liegt das nicht auf der Hand?", Lord Babington lächelte amüsiert, doch seine Augen blickten freundlich. „Sidney Parker verreiste, wenn ich mich recht entsinne an dem Tag, an dem auch sie Sanditon verließen." „Er brachte Mrs. Lambe nach Antigua, damit Sie und Mr. Molyneux heiraten konnten", meinte Charlotte, „so schrieb sie es mir."
„Gewiss war sein Handeln auch zum Guten für Mrs. Lambe, doch handelte mein Freund noch nie, jedenfalls nicht ausschließlich, als Ehestifter. Auch wenn ich zugeben muss, dass auch ich ohne Ihn nicht zu meinem Glück gefunden hätte", bemerkte der Lord und sah Esther mit tiefem Blick an. „Auf dieser Fahrt nach Antigua zumindest", fuhr er fort, „galt sein Hauptanliegen nicht dem Glück von zwei Liebenden, sondern viel eher dem Handel. Vielleicht wollte er auch einfach sein Gewissen bereinigen und hat deshalb dort einen Zuckerhandel mit bezahlten Arbeitern statt mit Sklaven aufgebaut. Kein sicheres Unternehmen, aber die Strömungen der Politik wandeln sich. Daher kann auch die feine Gesellschaft die grausame Wahrheit hinter der Süße in ihrem Tee und Kuchen nicht mehr ausblenden und setzt lieber auf unbefleckte Produkte. Also hatte er tatsächlich Erfolg, was wohl sein hauptsächliches Ziel war, denn wie Sie bereits wissen brauchte es hohe Erträge, um seinen Bruder und dessen Träume zu retten." Charlotte hatte eine schnelle Auffassungsgabe, aber die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich so sehr, dass sie dennoch eine Weile brauchte, um sie zu ordnen. „Erweist Ihr mir die Ehre eines Tanzes Lady Babington?", fragte der Lord an seine Gemahlin gewandt, nickte Charlotte zu und begab sich mit Esther zurück in das fröhliche Treiben der Menschen im Ballsaal. Die junge Frau blieb nachdenklich zurück und schaute in die Sterne als könnte sie dort einen Halt finden, nachdem Vieles, was sie für absolut wahr gehalten hatte, nun durch ganz neue Aufschlüsse ergänzt, gar geändert worden war. Doch das war lächerlich. Mrs. Campian und Sidney Parker würden heiraten, auch wenn er es offenbar nicht mehr wegen des Geldes tun musste, aber zeigte nicht gerade dies, dass der Grund für die Ehe mehr denn je die alte Liebe zwischen den beiden war?
„Ich dachte Sie lieben es zu tanzen." Sidney Parkers Stimme holte sie von weit fort wieder in das Jetzt auf den Balkon zurück. Sie fröstelte in der lauen Nachtluft und es gab keinen Halt mehr, der ihr half klare Gedanken zu fassen als ihre Blicke sich trafen.
So viel hatten sie zusammen gesehen. „Das ist wahr", mehr brachte sie nicht über die Lippen. „Da es Ihnen an einem Partner zu mangeln scheint", er trat ein paar Schritte auf sie zu, „würden Sie mit mir Vorlieb nehmen?" Charlotte nickte und ergriff vorsichtig seine Hand, bevor neue Zweifel in ihr aufkamen und es verbaten. Er nahm ihre Hand in die seine, legte die andere vorsichtig an ihre Hüfte und Charlotte überging ihre Zögerlichkeit und wich nicht zurück. Streicher sandten sanfte Melodien in den prächtigen Saal und sie begannen behutsam sich dazu zu drehen und zu wiegen. Beide schauten sie sich aufrecht in die Augen, suchten darin nach dem Wesen des anderen, das sie gekannt, doch nicht ganz ergründet hatten und versuchten zu verstehen, wer der Mensch vor Ihnen inzwischen geworden war.
Bilder von vergangen Bällen, wo sie gestritten und getanzt hatten verwoben sich mit dem Moment und den Schritten, die sie darin taten. Sie hatte ihn so schmerzlich vermisst, sich so oft gesagt, dass sie ihn loslassen musste, aber ihre Sehnsucht und Hoffnung waren größer als dieser Wille gewesen. Jetzt hielt er sie mit dieser Sanftheit, die sie schon vor einem Jahr bei dem rauen Geschäftsmann überrascht hatte und Charlotte wünschte, glaubte fast, dass zwischen ihrem Abschied auf den Klippen nicht ein Jahr vergangen war, an dessen Ende er nun eine andere Frau heiraten würde. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich und sie wandte den Blick von ihm ab. „Ich werden Ihnen gratulieren müssen Mr. Parker", meinte sie fest.
Er runzelte die Stirn. „Gratulieren Sie lieber Tom. Er hat gelernt und diesmal eine Versicherung abgeschlossen." Charlotte lächelte gebrochen von dem was ihr auf dem Herzen lastete. „Gewiss, doch auch Ihnen. Schließlich werden Sie heiraten." Sidney Parkers braune Augen blickten erneut in ihre und nur für diesen Moment, wollte sie es noch zulassen. „Vermutlich haben Sie Recht." „Sie wissen, dass es so ist. Warum verspotten Sie mich so?"
Er drehte sie im Kreis, doch sie löste sich von ihm. Charlotte brachte keine Entschuldigung hervor, ihre brennende Kehle nahm ihr jede Möglichkeit dazu, und entfernte sich von ihm durch die tanzen Menschen. Sie hatte sich für stärker gehalten, doch offenbar hatten auch darin ihre Gefühle ihr für einen Moment lang einen Streich gespielt. Scham, Wut und Schmerz umspülten sie wie das Meer die Felsen an der Küste. Warum hatte sie seinen Augen geglaubt, warum sich den Erinnerungen an etwas, was vergangen und unmöglich war hingegeben? Alles um sie herum und in ihren Gedanken kreiste. Sie brauchte Luft. Mit aller Willenskraft gelang es ihr die bunten Wirbel der Stoffe zu durchqueren, die Tränen zurückzuhalten, bis alles Gelächter und alle Fröhlichkeit sich mit den Türen des Ballsaals vor ihr verschlossen.

Sanditon-Die RückkehrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt