Auf der Steilküste

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Der Morgen dämmerte noch als Charlotte Heywood die Klippen entlanglief. Unruhig spritzte das Meer gegen die rauen Felsen und zog sich mit grollendem Rauschen wieder zurück.
Sie hatte keinen Schlaf finden können und obwohl sie spürte, wie müde sie war, hatte sie es in dem Stadthaus nicht länger ausgehalten und war geflohen als die Parkers beschwingt von Fröhlichkeit zurückkehrten. Wie gerne hätte sie sich mit ihnen gefreut, aber sie fühlte sich so bleiern und sehnte sich nach kalter Luft. Sie war zu den Klippen gelaufen, wagte dort zu rennen bis sie schwer atmete und ihre Brust sich schmerzend hob und senkte, versuchte nur noch zu atmen und nichts mehr zu denken, nichts mehr zu fühlen.
„Charlotte!" Sie hörte seine Stimme, wünschte sich Ruhe vor den kreisenden Bildern, vor allem, was mit diesem einen Menschen zu tun hatte.
„Mrs. Heywood!"
Sie ging weiter, auch wenn die Stimme trotzdem näher zu kommen schien.
„Mrs. Heywood ich bitte Sie, bleibe Sie stehen!"
Ihre Augen brannten von der salzigen Gischt und unterdrückten Tränen als sie sich ruckartig umwandte. „Was wollen Sie?", spie sie ihn an, „bitte, lassen sie mich in Frieden!" Sie flehte fast, doch Sidney Parker kam nur noch näher und griff nach ihren Händen. Charlotte riss sie fort und wollte mit schnellen Schritten weiter, aber sie hatte keine Kraft mehr.
Die Nacht war zu lang und sie war erschöpft von zu vielen Gefühlen und Gedanken, denen sie nicht entfliehen konnte. Sidney fasste nun doch ihre Hände und anstatt sie fortzuziehen, kamen ihr nur Tränen, die sie ebenso wenig wollte, wie dass er sie so sah.
Trotz der getrübten Sicht bemerkte sie, dass er immer noch Hemd und Weste vom Ball trug und auch, dass er fast ebenso müde aus, wie sie sich fühlte.
„Charlotte", flüsterte er und seine Augen waren nicht weniger vom Schmerz durchzogen als ihre. „Bitte", brachte sie matt hervor und schloss die Augen.
„Verzeihen Sie mir. Ich habe mich Ihnen gegenüber nicht angemessen verhalten", meinte er ernst. „Wenn Sie Ihr Gewissen vor der Hochzeit beruhigen wollen, dann seien sie sich gewiss, dass ich nicht die Person bin, die weiteres Leid bereiten wird", erwiderte Charlotte nicht ohne Vorwurf in der Stimme. Er fuhr sich angespannt mit der Hand durch das Haar.
Von seiner sonst so kühlen Gelassenheit war nichts mehr vorhanden.
„Sie haben jedes Recht so mit mir zu sprechen, doch seien Sie sicher, dass es keinen Tag seid ihrer Abreise gab, an dem ich nicht gelitten habe." Sie sah ihn noch immer wütend, doch auch unsicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, an. Seine Augen waren trotz der an ihm so fremden Unruhe, so ernst, dass sie es wagte, ihm weiter zuzuhören.
Da sie nichts erwiderte, fuhr er fort: „Ich hätte Sie nicht ziehen lassen dürfen."
„Welche Rolle spielt das?", fragte sie und spürte Schmerz und Wut in sich ringen, aber beide waren des Kampfes müde, „Sie und Mrs. Campian werden heiraten."
Der Mann vor ihr lächelte gequält. „Sicher hätte es früher einmal so kommen können, aber die Zeit und das Leben verändern Menschen." Sie sah ihn unverwandt an und versuchte mit aller Macht, sich wieder zu fangen. „Elizas Geld schien mir der einzige Weg zu sein, um Tom zu helfen und alle um mich herum ließen diese Ehe so naheliegend erscheinen, auch da ich sie einst geliebt habe. Aber..." Sein Blick war fest und ehrlich. „ich sah ein, dass dem nicht mehr so war, doch leider zu spät, dass ich sie auch nicht brauchen würde."
Fragend musterten Charlottes Augen nun die seinen. Er atmete die salzige Luft tief ein, ehe er fortfuhr: „Ich wollte ihnen vor einem Jahr an jenem Mittsommerabend eine Frage stellen und wäre das Feuer nicht ausgebrochen, so wäre es gewiss auch dazu gekommen. Doch da es sich so ereignete, sah ich mich nicht dazu im Stande Ihnen zu folgen. Vielleicht floh ich auch nach Antigua, um dem scheinbar unausweichlichen zu entgehen und erkannte dann erst, dass dort ein anderer Weg lag, meinen Bruder zu retten, ohne auf Eliza Campian angewiesen zu sein. Ich wusste, dass ich sie nicht heiraten konnte.
Ich wusste es als ich sie fortfahren sah Charlotte, aber ganz begriff ich es als ich sie wiedersah." Neue Tränen liefen Charlotte über die Wangen, doch sie ließ es zu, dass er sie mit seinem Daumen fortwischte. „Ich liebe Sie Charlotte", sagte er mit Worten, die so voll Ehrlichkeit wie sein Blick waren. „Und daher kann ich nur Ihnen die Frage stellen, ob Sie mich heiraten wollen." Sie lächelte trotz der Tränen, die ihr egal waren, denn ihr Herz schlug fest, ihre Gedanken waren klar und alles Blei der leichten Seeluft gewichen. „Ja, ja ich will", sagte sie. Sidney strich ihr über die Wange. Die salzige Luft um sie herum war kalt, der Tag war noch nicht erwacht, aber sie spürten es nicht. Sanft legten sich seine Lippen auf ihre und sie erwiderte seinen Kuss befreit von allem Schmerz.

Eine Woche nach dem Mittsommerball läuteten in Sanditon wie es bereits vor einem Jahr geplant worden war die Glocken der alten, grauen Kapelle. Die Menschen die heraus traten jubelten und warfen mit Reis und Blumen als das frisch getraute Paar ihnen folgte. Mrs. Campian hielt sich mit kühler Miene wieder an der Seite von Edward Denham auf, der neue Chancen doch noch zum reichen Mann zu werden auf sich zukommen sah, ohne dass er seine Tante dafür umschmeicheln musste. Charlotte strahlte. Auf ihren braunen Locken saß ein Wildblumenkranz gleich einer Krone und ihr Kleid wehte leicht und weiß in der Sommerbriese, so dass keiner daran dachte, dass sie von niederem Stand als andere geboren worden war. Sie war immer noch die Charlotte, die sie so schätzen gelernt hatten, nur dass sie nun offiziell ein Teil der Parker Familie war. Längst hatte diese sie ins Herz geschlossen, doch am glücklichsten von ihnen war Sidney, den man an diesem Tag häufiger mit dem bei ihm so seltenen und umso kostbareren Lächeln sah. Seite an Seite gingen er und Charlotte ihrer gemeinsamen Zukunft entgegen und als sie sich unter dem Jubel ihrer Familie und Freunde küssten, wussten sie, dass sie nichts mehr voneinander trennen konnte. 

Sanditon-Die RückkehrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt