"Ruhig, Milos." Mit gedämpfter Stimme versuchte Zaira den tänzelnden Rapphengst zu besänftigen, wohl wissend, dass dieser nur ihre eigene Nervosität widerspiegelte. Starr vor Anspannung saß sie im Sattel und lauschte. Die Nacht war windstill und außer dem leisen Rauschen eines entfernten Flusses drang kein einziges Geräusch an ihr Ohr. Reglos verharrten Reiter und Pferd, verborgen im Dickicht der Baumgrenze, bis Zaira sich nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich einen Ruck gab. Sie konnte ihr Vorhaben nicht länger aufschieben. Noch in dieser Nacht musste sie die Grenze überqueren und möglichst viel Abstand zwischen sich und ihr Heimatland bringen, in dem sie nicht mehr sicher war. Entschlossen gab sie ihrem Pferd per Schenkeldruck das Signal zum Losreiten.
Kaum hatten sie die letzten Ausläufer des Waldes hinter sich gelassen, als jäh der Mond über den schroffen Gipfeln der Blauen Berge aufging und die karge Hochebene zu Füßen des Gebirges in ein fahles Licht tauchte. Zaira verfluchte sich innerlich selbst. Hätte sie bloß nicht so lange gewartet. Ohne den Schutz der Dunkelheit fühlte sie sich in dieser öden, weitläufigen Graslandschaft wie auf dem Präsentierteller. Doch an Umkehr war nicht zu denken. Energisch spornte sie Milos zum Galopp an und lenkte ihn schnurgerade Richtung Norden. Schon bald konnte sie ein im Mondschein silbern glitzerndes Band ausmachen, das in nur wenigen Meilen Entfernung das Gelände durchschnitt: die Yarra, welche die Grenze zwischen Nilfgaard und den nördlichen Königreichen darstellte.
Vor etwa einem Jahr noch hatte es entlang des Flusses, quer durch den Kontinent, nur so vor Soldaten gewimmelt, doch seit in Cintra das Friedensabkommen unterzeichnet worden war, hatten der Norden und der Süden den Krieg für beendet erklärt und ihre Streitkräfte abgezogen. Lediglich an den großen Brücken, die seit dem Waffenstillstand wieder für jedermann geöffnet waren, waren Grenzposten eingerichtet worden, um Reisende zu kontrollieren und Zoll einzustreichen. Kurz hatte sie überlegt, den schnellsten Weg entlang der Handelsroute zu nehmen, doch schlussendlich hatte sich Zaira dagegen entschieden. Sie wollte nur eines: nicht auffallen. Als alleinreisende, junge Frau ohne plausiblen Grund für eine Grenzüberquerung würde sie das jedoch mit Sicherheit. Noch dazu wusste sie nicht, wie weit der Arm ihrer Verfolger reichte. Vielleicht hielt man an den Grenzposten bereits Ausschau nach ihr. Somit war sie zu der Entscheidung gekommen, einen großen Umweg zu nehmen und die Yarra nahe ihrer Quelle, wo sich kaum je ein Mensch hin verirrte, an einer seichten Stelle zu überqueren.
Nach nur wenigen Minuten scharfem Galopp wich der federnde Untergrund zunehmend hartem Geröll. Zaira ließ ihr Pferd in einen sanften Trab fallen. Das Rauschen des Flusses schwoll immer mehr an und schon bald kühlte die von den tosenden Wassermassen ausgehende Feuchtigkeit ihre erhitzten Wangen. Sachte brachte sie Milos zum Stillstand und saß ab, um ihn am Zügel das zum Wasser hin abfallende Gelände hinunterzuführen. Sie war noch keine drei Schritte weit gekommen, als sie etwas plötzlich innehalten ließ: Der Boden unter ihren Füßen vibrierte schwach. Alarmiert schaute sie sich um und erschrak. Hätte das brausende Wasser nicht jegliches andere Geräusch übertönt, wären ihr die fünf Reiter, die sich von Westen her rasch näherten, vermutlich früher aufgefallen. Mit einem Satz sprang Zaira in den Sattel, um auf Milos in die entgegengesetzte Richtung davonzujagen, doch es war bereits zu spät. Der Trupp hatte sie binnen Sekunden eingeholt und ihr den Weg abgeschnitten.
Nur keine Panik. Vielleicht wollen sie ja gar nichts von dir. Entgegen ihrem Instinkt hielt Zaira ihr Pferd an, setzte sich kerzengerade in den Sattel und wartete, bis sich die anderen Reiter ihr so weit genähert hatten, dass sie im Mondschein mehr erkennen konnte als nur ihre Umrisse. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Gruppe junger Männer, die allesamt in schwarze Kapuzenumhänge gekleidet und bewaffnet waren. Keine Grenzsoldaten, immerhin. Ist nur die Frage, ob das gut oder schlecht ist. "Kann ich Ihnen behilflich sein?" Zaira bemühte sich, ihre Stimme ruhig und selbstsicher klingen zu lassen. Was ihr nur mäßig gelang. Als Antwort erschallte leises Gelächter, bis einer der Männer vom Pferd absaß und sich ihr bis auf wenige Fuß weit näherte. Unter seiner Kapuze konnte sie nur einen schmalen, zu einem boshaften Grinsen verzogenen Mund ausmachen, von dessen linkem Mundwinkel aus sich eine breite Narbe bis unters schlecht rasierte Kinn zog. "Was macht eine junge Frau mitten in der Nacht in dieser gottverlassenen Gegend?" Der unangenehm kratzige Klang der Stimme ihres Gegenübers ließ Zaira erschaudern. Fieberhaft suchte sie nach einer glaubwürdigen Erklärung. "Mein Pferd ist durchgegangen. Ein wildes Tier hat es erschreckt. Aber wie Sie sehen, hat es sich wieder beruhigt. Danke, ich komme zurecht." Das kauft der dir niemals ab.
Bevor sie realisieren konnte, was geschah, riss der Mann sie plötzlich aus dem Sattel und drehte ihr mit einer Hand den Arm auf den Rücken. Vor Schmerz jaulte sie laut auf und versuchte sich zu wehren, jedoch vergeblich. Mit der anderen Hand packte ihr Angreifer sie an der Schulter und zog sie zu sich heran, sodass sie seinen heißen Atem auf ihrer Haut spüren konnte, als er ihr ins Ohr zischte: "Lügen bringt dir nichts. Wir wissen genau, wer du bist. Hier ist Endstation für dich." Mit diesen Worten stieß er sie von sich weg, eine Hand immer noch an ihrem verbogenen Arm, und drängte sie zu den anderen Kapuzenmännern, die mittlerweile auch abgesessen waren. Zaira zitterte vor Furcht, ihre Beine gaben nach und sie wäre beinahe gestürzt, hätte ihr Peiniger sie nicht unsanft wieder hochgerissen. "Das wird eine ordentliche Belohnung für uns geben, was meint ihr, Männer? Velrond wird sehr zufrieden mit uns sein." Velrond. Diesen Namen hatte sie schon einmal gehört. Mit einem Schlag kamen alle Erinnerungen an diese Nacht wieder zurück.
Verzweifeltes Geheule, Chaos, Rauch. Meterhohe Flammen züngeln in die finstere Nacht, verschlingen alles, was ihnen in die Quere kommt. Berittene Soldaten, die das Haus umzingeln. Ihre Rüstungen reflektieren den Feuerschein. Ein Schrei, ihre Mutter. "Flieh!" Noch mehr Feuer, noch mehr Rauch. Hilferufe, die abrupt abreißen. Zwei schwarze Gestalten, eine Frau und ein Mann. "Schnapp sie dir, Velrond!" Angst, nichts als panische Angst. Ein eiskaltes Kribbeln, das sich urplötzlich in ihr entfaltet, vom Bauchnabel bis in die Zehen- und Fingerspitzen. Die Luft ist wie elektrisiert, weiße Funken zucken um sie herum. Zucken auf ihrer Haut, breiten sich rasend schnell aus. Jemand greift nach ihr. Ein jäher Ausbruch von Energie. Gleißende Helligkeit. Ein Gewitter wird entfesselt. Sie ist der Blitz.
"He, was ist mit dir?! Na los, beweg dich!" Zaira war wie erstarrt. Sie spürte, wie eine eisige Kälte von ihr Besitz ergriff. Wie tausende kleine Ameisen breitete sich ein Kribbeln in ihrem Körper aus, raste von ihrem Bauch aus bis in die Spitzen ihrer Gliedmaßen. Sie konnte nichts anderes mehr fühlen, keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es passierte wieder. Die Luft um sie herum begann zu knistern. Wie von der Tarantel gestochen, riss ihr Peiniger seine Hand los und taumelte von ihr weg, zu seinen Kumpanen, die sie anstarrten, als stünde der König der Wilden Jagd höchstpersönlich vor ihnen. Zaira hielt die Luft an. Das Kribbeln schwoll an zu einem Stechen, als würden tausende kleine Nadeln aus Eis auf sie niederregnen. Winzige Blitze bildeten sich auf ihrer Haut, wurden größer und größer. Sie war wie gefangen, hatte jegliche Kontrolle verloren. Ruckartig erwachte sie aus ihrer Starre, drehte sich instinktiv ihren Häschern zu und streckte abrupt die Arme vor, sodass ihre Handflächen nach vorne zeigten. Ein gleißender Strahl schoss aus ihnen hervor. Zaira kniff die Augen zusammen. Ein Schrei entwich ihrer Kehle, als plötzlich ihr ganzer Körper zu schmerzen anfing. Knochen und Gelenke knackten, heiße Stiche überzogen ihre Haut. Sie hatte das Gefühl zu schrumpfen, nur um dann schlagartig wieder zu wachsen. Entsetzt riss sie die Augen auf. Noch immer umgab sie weißes Licht, durchzogen von zuckenden kleinen Blitzen. Aus ihren Augenwinkeln nahm sie etwas Seltsames wahr. Waren das...Federn? Ihr Schrei veränderte sich, ging in einen gellenden, hohen Ton über, der unmöglich aus ihrer Kehle stammen konnte. Wie der Ruf eines Adlers hallte er über die weite Ebene, bis er jäh erlosch. Dunkelheit umfing sie.
* * *
Zaira schlug die Augen auf. Sie lag zusammengekrümmt auf der harten Erde. Über ihr stand der Mond senkrecht am Himmel. Etwas Warmes berührte sachte ihre Wange und als sie ihren Kopf drehte, stellte sie erleichtert fest, dass es Milos war, der sie mit seinen Nüstern sanft anstupste. Ächzend setzte sie sich auf und sah sich um. Die Erde zu ihrer Rechten war verkohlt und rauchte, ebenso die unförmigen Haufen einige Schritte weiter. Der Gestank von verbranntem Fleisch lag in der Luft und schlagartig wurde ihr klar, um was es sich bei den unförmigen Haufen handelte. Von einer jähen Übelkeit übermannt, fiel sie auf die Knie und übergab sich. Tränen brannten ihr in den Augen und nahmen ihr die Sicht. Ich bin ein Monster!
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sich Zaira so weit gefasst, dass sie wieder halbwegs klar denken konnte. Auch wenn sie sich ununterbrochen fragte, ob dies alles gerade wirklich geschehen war oder ob ihre Gedanken ihr bloß einen Streich spielten. Benommen rappelte sie sich vom Boden auf. Sie schwankte kurz, doch Milos drückte ihr stützend seine Stirn in den Rücken. Nachdem ihr Kopf aufgehört hatte sich zu drehen, wandte sich Zaira zu dem Rapphengst um und tätschelte sachte seinen Hals. "Hast du denn keine Angst vor mir?" Ich nämlich schon. Sie griff erschöpft nach den Zügeln und stieg schwerfällig in den Sattel. Mühsam schluckte sie den unangenehmen Geschmack in ihrem Mund hinunter und holte tief Luft. "Na dann, lass uns den Fluss überqueren."
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Erbe der Macht [The Witcher FF]
Fantasy"Flieh, verlasse dieses Land. Du bist hier nicht länger sicher." Fernab der Zivilisation, in den dichten Wäldern Nilfgaards, führt die 25-jährige Zaira mit ihren Eltern ein recht einsiedlerisches Leben, als ein grauenhaftes Ereignis jäh die Familie...