"Die Hammelkeule und einen Krug Mahakamer Met, bitte." Die Kellnerin nickte knapp und verschwand kurz darauf in Richtung Küche, jedoch nicht, ohne ihn vorher mit einem abschätzigen Blick zu mustern. Wie immer ignorierte Askan dieses Verhalten ihm gegenüber geflissentlich. Besonders heute wollte er sich nicht die Laune verderben lassen. Drei Tage lang hatte er einen Greifen quer durch Aedirn verfolgt, der sich am Berg Carbon ein gemütliches Nest eingerichtet und die umliegenden Dörfer in Angst und Schrecken versetzt hatte. Obwohl sich die Bestie vehement verteidigt hatte, war es ihm schließlich gelungen sie zu erlegen, was ihm eine überaus zufriedenstellende Belohnung eingebracht hatte. Endlich konnte er sich neue Ausrüstungsgegenstände leisten und, was im Augenblick viel wichtiger war, eine anständige Mahlzeit. Diese schien ihm durchaus angebracht, nachdem er sich nach Erledigung des eigentlichen Auftrags wieder zurück zum Berg Carbon aufgemacht hatte, um dort auch noch das Greifennest zu räumen und eventuell vorhandenes Gelege zu eliminieren. Unentgeltlich. So manch anderer Hexer hätte das vermutlich als "unwirtschaftlich" bezeichnet. Askans Devise jedoch lautete: Keine halben Sachen.
Nach verhältnismäßig kurzer Wartezeit stellte die Kellnerin die gewünschten Speisen wortlos vor ihm ab und er konnte sich selbst davon überzeugen, dass es hier im Gasthof "Zur Dohle" den besten Hammel von ganz Aldersberg gab. Während er aß, hörte er beiläufig die Gespräche der anderen Gäste mit an, eine Angewohnheit, die er seinem scharfen Hexer-Gehör verdankte. Immerhin hatte ihm dies schon so manchen Auftrag eingebracht, auch wenn sich selten jemand freute, wenn sich der stille Fremde in der finstersten Ecke der Gaststube als Hexer entpuppte. Niemand mochte "diese Mutanten". Aber zum Monsterjagen waren sie gut genug. Askan biss hungrig ein großes Stück von der Keule ab, während vier Tische weiter ein Mann seiner deutlich jüngeren Begleitung schwor, dass er sein "altes Weib" für sie verlassen würde. Diese schien das auch noch zu glauben. So ein Schwachsinn. An der Bar diskutierte ein geschniegelter Wichtigtuer mit dem Wirt über die Qualität des hier ausgeschenkten redanischen Lagerbiers, als seine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe junger Männer gelenkt wurde. "...ich schwöre es bei der Göttin Melitele. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Das sind nicht nur dumme Gerüchte." "Du hast wohl zu viel gesoffen, Jurga. Bist gegen einen Baum gelaufen und hast Sternchen gesehen. Oder hat dir deine Alte eins übergebraten?" Auf diese Aussage folgte allgemeines Gelächter, doch der angesprochene ließ sich nicht beirren. "Nein, nein, so wahr ich hier sitze. Keine zwei Meilen vor mir, mitten im Wald, gab es plötzlich ein...ein Gewitter. Aber es kam nicht aus der Luft, sondern vom Boden. Da waren Blitze und es roch nach Rauch. Ich wollte mir das natürlich genauer anschauen. Als ich näherkam, schoss plötzlich ein riesengroßer Greifvogel an mir vorbei und verschwand über den Bäumen. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Sein Gefieder war silbern und blau, ich schwöre es! Ich würde es selbst nicht glauben, hätte ich es nicht gesehen!" Mittlerweile hatten seine Kumpanen aufgehört sich über ihn lustig zu machen, stattdessen folgten sie interessiert seinen Ausschweifungen zur Erscheinung des gesichteten Geschöpfes. Askan leerte mit einem Zug seinen Becher, legte die Bezahlung für das aufgegessene Mittagessen auf den Tisch und griff nach seinen Schwertern.
"Wann und wo war das?" Mit einem Mal verstummte das lebhafte Gespräch am Tisch und fünf Augenpaare blickten Askan teils verwundert, teils geringschätzig an. Schnell hatte der Angesprochene, dessen Name Jurga war, seine Fassung wieder gewonnen. "Heute Morgen. Die Straße aus der Stadt hinaus Richtung Süden. Keine zehn Meilen von hier und dann ein Stück östlich in den Wald hinein. Ist kaum zu übersehen." Askan nickte ihm zum Dank zu und verließ das "Zur Dohle", ohne auf die bissigen Kommentare zu achten, die ihm zwei der anderen Männer am Tisch hinterher murrten.
Nachdem er den Stalljungen bezahlt hatte, sattelte Askan sein Pferd, eine kräftige Warmblutstute mit dunkelbraunem Fell und schwarzer Mähne, der er, ihrem feurigen Temperament entsprechend, den Namen Falka gegeben hatte. Ein letztes Mal prüfte er den korrekten Sitz der beiden Schwerter, die er am Rücken trug, dann führte er das Tier am Zügel über die geschäftige Hauptstraße zum südlichen Stadttor. Bevor er hindurchtrat, hielt er kurz inne und warf einen Blick auf das Anschlagbrett, das ihn letztens auf das hiesige Greifen-Problem aufmerksam gemacht hatte. Dabei fiel ihm ein Aushang ins Auge, der neu zu sein schien. Interessiert trat er näher, griff nach dem Blatt und überflog das Geschriebene stirnrunzelnd. Als er die Höhe der Belohnung für die "Ergreifung" des "Blitze-speienden, Greifvogel-ähnlichen Untiers" las, pfiff er leise durch die Zähne. Sorgfältig faltete er das Papier in der Mitte zusammen und steckte es in die Satteltasche. In letzter Zeit waren ihm öfters Berichte zu Ohren gekommen über ein Geschöpf, das ziemlich genau der Beschreibung in dem Aushang entsprach und scheinbar in Lyrien, und nun wohl auch in Aedirn, sein Unwesen trieb. Bisher hatte er diese Schilderungen als bloßen Tratsch abgetan, den Großmütter ihren Enkeln erzählten, um sie außerhalb der befestigten Städte und Dörfer zur Vorsicht zu mahnen. Wie es schien, steckte aber doch mehr hinter diesen Gerüchten, als er angenommen hatte. "Komm, Falka. Wir haben eine neue Aufgabe."
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Erbe der Macht [The Witcher FF]
Fantasy"Flieh, verlasse dieses Land. Du bist hier nicht länger sicher." Fernab der Zivilisation, in den dichten Wäldern Nilfgaards, führt die 25-jährige Zaira mit ihren Eltern ein recht einsiedlerisches Leben, als ein grauenhaftes Ereignis jäh die Familie...