"Sie sind da." Zaira wandte sich dem Stalltor zu, welches Askan gerade so weit aufgeschoben hatte, dass er von außen den Kopf hereinstecken konnte. Prompt pfiff eine eisige Böe durch den schmalen Spalt und trieb eine Wolke winziger, weißer Flocken ins Innere des Holzverbaus. "Komme schon!" Hastig stopfte sie das restliche Heu in die Raufe, ehe sie Milos zum Abschied den Hals tätschelte und hinter Askan ins Freie trat. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das massive Tor wieder ordentlich verschlossen war, schlang sie ihren Wollmantel enger um sich und folgte dem Hexer mit eingezogenem Kopf über den schneebedeckten Burghof zur Zitadelle. Unerbittlich zerrte der Wind an ihren Haaren und löste einzelne Strähnen aus dem Zopf, den sie sich heute Morgen noch geflochten hatte, damit man ihr die schlaflose Nacht wenigstens nicht an den zerrupften Locken ansah.
"Was für ein Wetter", schimpfte Zaira, kaum dass die schwere Tür mit einem Rumms hinter ihnen ins Schloss gefallen war, und schüttelte den Schnee aus ihrer Kleidung, "wie gut, dass Geralt und Yennefer per Teleport angereist sind." "Anders wäre es bei ihnen auch nicht möglich", kommentierte Askan ihre Aussage, woraufhin sie verwundert die Stirn runzelte. "Wie meinst du das? Woher kommen sie denn?" Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen warf ihr der Hexer einen kurzen Seitenblick zu, ehe er sich in Bewegung setzte, um den Speisesaal zu durchqueren. "Aus einer anderen Dimension." Verdutzt blickte sie ihm hinterher. Der nimmt mich wohl auf den Arm. "Was ist, kommst du?" Askans Stimme riss sie aus ihrer Starre und sie schloss eilig zu ihm auf. "Ich wusste gar nicht, dass man zwischen Dimensionen hin- und herreisen kann", äußerte sie ihre Verwunderung und blickte skeptisch zu ihm hoch. "Kann man normalerweise auch nicht", entgegnete er sachlich, "aber Ciri kann es, ihre...Tochter." Ciri? Dieser Name war ihr erst letzte Nacht, bei ihrem Besuch in der Bibliothek, untergekommen. Bevor sie jedoch weiter nachhaken konnte, hatten sie das Stiegenhaus im Südturm erreicht und der Klang mehrerer Stimmen drang vom Obergeschoss zu ihnen herab.
"Du kannst doch nicht ernsthaft von mir verlangen, dass ich in eine dieser...dieser fürchterlichen Abstellkammern übersiedle. Geralt, mein längster und teuerster Freund, das Turmzimmer ist doch groß genug für..." Diese Lamentation war eindeutig Rittersporn zuzuordnen. Askan schien ähnlich zu denken, denn er verdrehte schmunzelnd die Augen. Als sie im ersten Stock auf den Korridor hinaustraten, erhaschte Zaira erstmals einen Blick auf die beiden Neuankömmlinge, die mit verschränkten Armen das Gezeter des Barden über sich ergehen ließen.
"Geralt, Yennefer. Schön euch zu sehen." Rittersporn verstummte und alle drei wandten sich ihnen zeitgleich zu. "Askan", erwiderte der Mann mit den schneeweißen, schulterlangen Haaren und den stechend gelben Augen als Erster den Gruß. Eine grässliche Narbe zog sich der Länge nach über seine linke Gesichtshälfte, vom Haaransatz bis zur Wange, und seine tiefe Stimme klang grimmig, jedoch nicht unfreundlich. Mit großen Schritten trat er auf sie zu und die beiden Hexer umarmten sich schulterklopfend. "Hattet ihr eine angenehme Reise?", wandte sich Askan anschließend an Yennefer, welche dankend bejahte, was ihr Verlobter mit einem mürrischen "Hmm" quittierte. Die Teleportation stand wohl nicht gerade auf der Liste seiner Lieblings-Fortbewegungsmittel. Neugierig musterte Zaira die schöne Frau an seiner Seite, welche vollständig in Schwarz und Weiß gekleidet war und um den Hals ein schwarzes Samtband mit einem brillantbesetzten Obsidianstern trug. Ihr pechschwarzes, glänzendes Haar ergoss sich wallend über ihre Schultern und umrahmte vorteilhaft das ebenmäßige Gesicht mit den veilchenblauen Augen, welche jäh ihrem Blick begegneten. "Du musst dann wohl Zaira sein." Milde lächelnd reichte Yennefer ihr die Hand. Trotz ihrer jugendlichen Erscheinung strahlte sie eine unbestreitbare Weisheit und Autorität aus, sodass sich Zaira neben ihr wie ein unbedarftes Kind fühlte. Mit festem Händedruck erwiderte sie den Gruß und nahm dabei den Duft von Flieder und Stachelbeere wahr, der die Zauberin umgab. "Nun denn", ergriff diese schließlich wieder das Wort, "in welcher Angelegenheit wird mein Rat benötigt?"
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Erbe der Macht [The Witcher FF]
Fantasy"Flieh, verlasse dieses Land. Du bist hier nicht länger sicher." Fernab der Zivilisation, in den dichten Wäldern Nilfgaards, führt die 25-jährige Zaira mit ihren Eltern ein recht einsiedlerisches Leben, als ein grauenhaftes Ereignis jäh die Familie...