Kapitel 15

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Einatmen. Ausatmen. Zaira schloss die Augen. Einatmen. Ausatmen. Bewusst entspannte sie ihre vom Training verhärtete Muskulatur, kreiste sachte den Kopf und lockerte die ungewollt hochgezogenen Schultern. Einatmen. Ausatmen. Nach und nach blendete sie ihre Umgebung aus - den kalten Steinboden, auf dem sie im Schneidersitz saß, die knisternden Fackeln, die den Gesellschaftssaal spärlich erhellten, und den eisigen Wind, der erbarmungslos ums Gemäuer pfiff - bis jeglicher Gedanke aus ihrem Kopf vertrieben war. Einatmen. Ausatmen. Stoisch lauschte sie ihrem gleichmäßigen Herzschlag und den langsamen, tiefen Atemzügen. Einatmen. Ausatmen. Schließlich begab sie sich auf die Suche nach ihrer Magie.

Vier Tage waren vergangen, seit die Zauberin und ihr Verlobter auf Kaer Morhen eingetroffen waren. Vier Tage, in denen Yennefer ihre magischen Fühler ausgestreckt hatte, um an Informationen zu den notierten Namen zu kommen. Trotz der zahlreichen, quer über den Kontinent verteilten Kontakte, die Yennefer, Rittersporn und die Hexer über die Jahre hinweg angesammelt hatten, waren ihre Nachforschungen bislang ergebnislos geblieben. Zaira hatte rasch begriffen, dass sich daran so schnell nichts ändern würde - Magie hin oder her - und beschlossen, die Zeit wenigstens sinnvoll zu nutzen. So verbrachte sie die Vormittage mit der Verbesserung ihrer Kampfkünste, um sich nach dem Mittagessen mit schmerzenden Muskeln ihrer Magie zu widmen. So wie jetzt.

Während sie aufmerksam in sich hinein spürte, um die Quelle ihrer Macht aufzustöbern, wiederholte sie in Gedanken Yennefers Anweisungen. Deine Kräfte sind ein Teil von dir, unsichtbar für die Außenwelt, verborgen sogar vor dir selbst. Stell dir einen Käfig vor, tief in deinem Innersten, hinter dessen Gittern du all deine Magie unbewusst eingeschlossen hast. Es liegt an dir, sie zu befreien. Nicht die Angst ist der Schlüssel zu diesem Käfig, nicht die Wut und auch nicht der Hass. Einzig allein dein Geist ist es. Heftige Emotionen schwächen deinen Geist. Du verlierst die Kontrolle, wenn auch nicht willentlich, und setzt deine Magie dadurch schlagartig frei. Aber du kannst das verhindern. Kontrolliere den Käfig, dann kontrollierst du auch deine Macht. Das würde sie tun. Sie würde sich die Fähigkeiten, die der Tod ihrer Eltern zum ersten Mal ans Tageslicht befördert hatte, zunutze machen, anstatt ihnen hilflos ausgeliefert zu sein.

Hinter verschlossenen Augen begab sie sich auf eine Reise in ihr Innerstes. Instinktiv folgte sie dem Ruf der Magie, wie sie es bereits am Vortag getan hatte. Mittlerweile wusste sie, wohin die Reise ging. Sie brauchte keine Angst zu haben. Ein sanftes, bläuliches Schimmern tauchte in der Dunkelheit auf, dem sie diesmal ohne zu zögern folgte. Der Ursprung dieses Lichts, das war ihr Ziel. Je mehr sie sich diesem näherte, desto heller wurde es, bis die Finsternis, die sie umgab, gänzlich vertrieben wurde und das Leuchten sie vollkommen ausfüllte. Und dort, inmitten des blendenden Scheins, machte sie den Käfig aus, von dem Yennefer gesprochen hatte. Massive Stäbe aus glänzendem Stahl, die sowohl nach oben als auch nach unten hin kein Ende zu nehmen schienen, bildeten die einzige Barriere zwischen ihr und der pulsierenden, strahlenden Quelle ihrer Macht. Energie, nichts als pure Energie. Ehrfürchtig legte sie die linke Hand an einen der Gitterstäbe und zuckte kurz zusammen, als die Magie sie durchströmte. Ein wohliger Schauer durchlief ihren Körper. Ein Teil von ihr. Wie hatte sie all die Jahre so ahnungslos sein können? Entschieden schloss sie die Hand um den Gitterstab und zog vorsichtig daran. Nur einen kleinen Spalt breit öffnete sie das Tor in ihrem Geist und ließ damit einen Bruchteil der Energie dahinter frei.

Euphorisch schlug Zaira die Augen auf, als das vertraute Prickeln in ihr aufkeimte. Mit einer Mischung aus Faszination und Freude beobachtete sie, wie sich - auf ihr Geheiß - winzige, weiße Funken auf ihrer Haut bildeten und in scheinbar zufälligen Mustern über ihren Körper tanzten. Ohne die Augen wieder zu schließen, öffnete sie den Käfig in ihren Gedanken noch ein wenig mehr, woraufhin die Funken prompt an Geschwindigkeit gewannen, sodass es ihr schwer fiel ihren Bewegungen weiterhin zu folgen. Allmählich war sie tatsächlich in der Lage ihre Fähigkeiten zu kontrollieren. Wofür sie diese wohl nutzen könnte?

Erbe der Macht [The Witcher FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt