Kapitel 10

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Unzählige winzige Flocken taumelten vom verhangenen Himmel herab, trieben sachte im Wind und verschmolzen schließlich mit der knöcheltiefen Schneedecke, die sich in den letzten zwei Tagen wie ein weißer Mantel über die Landschaft gelegt hatte. Der Neuschnee dämpfte, abgesehen von dem Knirschen unter den Hufen, jegliche Umgebungsgeräusche, und so lag der Wald um sie herum still und friedlich da. Lediglich vereinzelte Spuren, die hin und wieder ihren Weg kreuzten, zeugten von der Anwesenheit anderer Lebewesen.

Die eisige Luft trieb Zaira permanent Tränen in die Augen, welche sie unablässig fortblinzelte. Sie zog sich die Kapuze des dicken, grauen Wollmantels tiefer in die Stirn, den sie - zusammen mit einem Paar schwarzer, gefütterter Lederhandschuhe - bei einem Abstecher in ein kleines Städtchen erworben hatte. Zu einem Preis, der das Gewicht ihres Münzbeutels erheblich reduziert hatte. Angesichts der Minusgrade hatte sie allerdings nicht lange verhandeln wollen. Trotz der warmen Kleidung fühlten sich ihre Finger und Zehen taub an. Die Kälte steckte ihr in den Gliedern und zehrte immer mehr an ihren Kräften. Während Milos eigenständig hinter Falka hertrottete, war ihr gesamter Fokus darauf gerichtet, nicht aus dem Sattel zu rutschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies passierte, wurde mit jeder verstreichenden Minute größer.

"Ist es noch weit?", erkundigte sie sich matt und unterdrückte nur mühsam ein Gähnen. Wie spät es wohl sein mochte? Vermutlich würde bald die Dämmerung hereinbrechen, doch sicher war sie sich nicht. Die Sonne war hinter der dicken Wolkendecke unmöglich auszumachen, schon den ganzen Tag über umgab sie dasselbe schummrige Licht. Kein Wunder, dass sich ihr Zeitgefühl längst verabschiedet hatte. "Wenn der Schneefall unser Vorankommen nicht allzu stark verzögert, sollten wir morgen am späten Nachmittag in Kaer Morhen sein", beantwortete Askan ihre Frage. Er wandte sich kurz zu ihr um und musterte sie, dann fügte er hinzu: "Ich denke es reicht für heute. Wir sollten die Pferde nicht überstrapazieren."

Zu Zairas Erleichterung mussten sie nicht lange nach einer passenden Stelle für ihr Nachtlager suchen. Unweit des Weges fanden sie unter einem überhängenden Felsen ein relativ trockenes Plätzchen, an dem der Hexer sogleich ein Feuer entzündete, um sie bis zum Morgen warm zu halten. Während sie sich an ihrem Proviant bedienten, begann sich der Himmel allmählich zu verdunkeln. Schwach reflektierte der Schnee den gelb-orangen Schein der Flammen, welche tanzende Schatten auf die umliegenden Bäume warfen. Das brennende Holz knisterte in der Hitze des Feuers und als ein Ästchen laut knackend brach, stieben Funken daraus hervor. Abwesend beobachtete Zaira das Lichtspiel, bis sie sich nach einer Weile schließlich träge erhob. Sie wünschte Askan eine gute Nacht und legte sich ein paar Schritte weiter, dicht an der Rückwand des Unterschlupfs, nieder. Binnen weniger Atemzüge fiel sie in einen tiefen Schlaf.

* * *

Gedankenverloren verfolgte Askan, der noch immer am Lagerfeuer saß, mit den Augen die aufsteigenden Funken. Obwohl Zaira schon seit über einer Stunde schlummerte, war er nach wie vor nicht müde. Hexer brauchten nun einmal nicht so viel Schlaf wie normale Menschen. Außerdem war sein Körper, im Gegensatz zu ihrem, solche Strapazen gewohnt. Ihm war nicht entgangen, wie sehr ihr diese Reise allmählich zusetzte. Gut, dass sie nur mehr einen Tagesritt von ihrem Ziel entfernt waren. Er hoffte inbrünstig, dass das Wetter sich in dieser Zeit nicht vollkommen verschlechterte und den einzigen Weg in seine Heimstatt, die ein gutes Stück höher in den Bergen lag, unpassierbar machte.

Über das Prasseln des Lagerfeuers hinweg erregte plötzlich ein leises Wimmern die Aufmerksamkeit des Hexers. Mit gerunzelter Stirn horchte er auf und stellte sogleich fest, dass es aus der Nische hinter ihm kam. Lautlos erhob er sich und trat auf die schlafende junge Frau zu, die unruhig den Kopf hin und her warf und die Hände zu Fäusten verkrampft hatte. Ihr Atem ging schnell und unregelmäßig, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. "Zaira." Er ging neben ihr in die Hocke und berührte sie sanft an der Schulter. Sie zuckte zusammen, wachte jedoch nicht auf. Ihre Lippen formten stumme Worte: "...nein...nein..." "Zaira!" Diesmal fasste er sie kräftiger an und sie fuhr laut nach Luft japsend aus dem Schlaf hoch. Angsterfüllt riss sie die tränennassen Augen auf und sah sich desorientiert um. "Hey, es ist alles in Ordnung. Du hast nur schlecht geträumt." Erst jetzt bemerkte sie den Hexer, der sich über sie beugte und sie besorgt musterte. Seufzend ließ sie den Kopf auf den Boden zurücksinken und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

Erbe der Macht [The Witcher FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt