2 Die Ankunft

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Durch das gekippte Fenster in meinem Zimmer höre ich, wie ein Auto auf den Hof fährt, der Motor abgestellt wird und zwei Autotüren geöffnet und zugeschlagen werden. Ich blicke von meinen Mathehausaufgaben auf und stelle mich ans Fenster, sodass ich einen Blick hinauswerfen kann, ohne entdeckt zu werden. Ich stelle fest, dass Kai ziemlich gross und dünn geworden ist. Die weiten Klamotten, die er trägt, lassen ihn beinahe schlaksig wirken. Die Haare trägt er kürzer als früher, auch trägt er den Stoffbären Ted nicht mehr bei sich. Ich beobachte, wie mein Vater den Kofferraum öffnet und eine einzige Reisetasche herausholt.

Verwundert über das wenige Gepäck löse ich meinen Blick von ihnen und laufe den Flur entlang die Treppe runter. Unten ist der Esstisch bereits für Kaffee und Kuchen gedeckt. Meine Mutter hat dafür extra eine Schwarzwälder Kirschtorte und einen Apfelkuchen gebacken. Ich bleibe in der Küche stehen, etwas ratlos, was ich jetzt am besten tun und wie ich mich in dieser Situation verhalten solle. Seltsamerweise bin ich gar nicht aufgeregt darüber, dass ich Kai gleich nach zehn Jahren wiedersehen würde. Ich bin eher voller Vorfreude. Die Eingangstür wird geöffnet und Papa stellt, gefolgt von Kai, das einzelne Gepäckstück auf den Boden ab. Ich habe mit seiner Grösse recht gehabt. Er ist fast einen ganzen Kopf grösser als unser Vater.

Meine Mutter eilt voller Energie und Aufregung an mir vorbei und reicht Kai die Hand, sagt, dass sie sich freut ihn wiederzusehen und hofft, dass er sich hier bei uns noch genauso wohlfühlen würde, wie früher auch. Danach tritt sie einen Schritt beiseite, damit ich ihn begrüssen kann. «Hallo Bianca», sagt er mit tiefer Stimme. «Hallo», erwidere ich und strecke ihm die Hand entgegen, die er mit kurz hochgezogenen Augenbrauen und festem Druck drückt. Bei unserer Berührung wird mir plötzlich warm ums Herz, welches beginnt ein paar Töne höher zu schlagen. Sofort bereue ich ihn nicht umarmt zu haben. Zu gerne hätte ich seine Arme um meinen Körper gespürt.

Einen Moment lang stehen wir alle schweigend in dem kleinen Eingangsflur. Keiner sagt ein Wort, was etwas unangenehm ist. Ich merke, wie sein Blick auf mir ruht, vermeide allerdings, ihm in die Augen zu sehen. Geschweige denn ihn generell anzusehen. Ich weiss zwar nicht, wie ich mir die Ankunft von Kai vorgestellt habe, aber irgendwie anders. Nicht so.

Noch immer spüre ich seinen Blick auf mir und langsam werde ich doch nervös. Nun würde ich ihn doch gerne anschauen, doch ich traue mich nicht. Es fühlt sich nicht so an, als sei Kai mein Bruder, strenggenommen mein Halbbruder. Aber auf dieses «Halb» habe ich noch nie viel Wert gelegt. Es fühlt sich eher so an, als würde ich nach langer Zeit einen geliebten Freund wieder sehen. Ich fühle mich ihm gegenüber vertraut. Etwas an ihm zieht mich förmlich an. Ehe ich mir weitere Gedanken darüber machen kann, ergreift meine Mutter das Wort und bittet uns alle zu Tisch.

Kai nimmt als erster Platz und ich setzte mich schnell neben ihn. Die erste Minute vergeht, ohne dass jemand ein Wort sagt. Man hört nur die Gabeln, die auf die Teller schlagen, und das Geräusch, wenn eine Kaffeetasse auf den Unterteller abgestellt wird. Man merkt, dass diese Situation für uns alle neu und ungewohnt ist. Jeder will das Beste aus der Situation machen, weiss aber nicht wie. Schliesslich ergreift meine Mutter das Wort und erkundigt sich, wie seine Reise war. Kai antwortet: «Abgesehen von der kurzen Verspätung des Anschlusszuges verlief sie reibungslos.» Ich traue mich auch etwas zu fragen, nämlich wie lange er denn unterwegs gewesen sei. Kai antwortet grinsend: «Fast neun Stunden. Sechs davon habe ich geschlafen.» Auf die Frage meines Vaters, was er denn in seiner Freizeit alles machen würde, schliesslich haben sie sich ja schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, antwortet Kai: «Ich habe fünf Jahre lang Basketball gespielt, musste aber mit sechzehn Jahren aufgrund von einer Knieverletzung aufhören.»

Im Grossen und Ganzen verläuft der Tag ziemlich gut. Kai erzählt von seiner Kindheit in Bremen, von seiner Katze Timo, die weglief und von seiner zweiten Katze Lola, die von einem Auto überfahren wurde. Eine dritte Katze gab es nicht, dafür aber einen Hamster, der allerdings aus dem Käfig ausgebüxt ist und von der Putzfrau aufgesaugt wurde.

Anschliessend zeigt unser Vater ihm sein neues Zimmer. Es ist direkt neben meinem. Als sich der Tag dem Ende neigt und wir die lange Partie Monopoly beenden, helfe ich meiner Mutter noch schnell beim Abwasch und stelle die sauberen, trockenen Teller zurück in den Hängeschank. Sie erkundigt sich, wie ich über Kais Rückkehr denke und ob es mir dabei gut gehe oder ich irgendwelche Bedenken habe. Ich antworte ihr, dass es mir gut geht, ich mich freue, dass Kai da ist und, dass ich keine Bedenken habe. Wieso sollte ich diese auch haben?

Anschliessend begebe ich mich ins obere Stockwerk, um mich bettfertig zu machen. Ich öffne die Tür zum Badezimmer und erschrecke. Kai steht am Waschbecken und putzt sich die Zähne. Ich will mich gerade entschuldigen und draussen warten, bis er fertig ist, als er mir mit einem Kopfnicken deutet, dass ich reinkommen kann. Zögernd schliesse ich die Tür hinter mir und greife ebenfalls nach meiner Zahnbürste. «Wenn du mal abschliessen willst, der Schlüssel liegt oben auf dem Türrahmen», erkläre ich ihm. «Ach so, den habe ich schon gesucht. Wieso steckt der denn nicht im Schlüsselloch? Es heisst schliesslich nicht ohne Grund Schlüsselloch.» Ich lege die Zahnbürste beiseite, stelle mich auf die Zehenspitzen und greife nach dem Schlüssel. Kaum habe ich ihn ins Schlüsselloch gesteckt, fällt er hinaus. Ich wiederhole es und der Schlüssel fällt erneut zu Boden. «Deshalb», erkläre ich und lege den Schlüssel zurück an seinen Platz. «Aha», macht Kai. Aus dem Augenwinkel beobachte ich ihn unauffällig – dachte ich. Denn nachdem Kai die schaumige Zahnpaste ausgespuckt hat, sagt er: «Ich weiss, dass du mich anschaust. Ich habe dich auch bemerkt, als du Papa und mich vom Fenster aus beobachtet hast.» Ich laufe hochrot an. «Wie hast du mich gesehen?», will ich wissen. Er zuckt nur mit den Schultern und dreht den Wasserhahn auf. «Du hast ziemlich wenig Gepäck mitgebracht», fahre ich mit der Unterhaltung fort. «Ich brauche nicht mehr.»

«Hast du Ted dabei?» Er schaut mich verwirrt an und schüttelt den Kopf. «Früher hast du ihn immer bei dir getragen», sage ich. «Du hast das Haus kaum ohne ihn verlassen.» Er schnaubt lächelnd. «Da war ich auch fünf Jahre alt oder so. Seither habe ich mich eben verändert, so wie du auch. Du hast keine Lillifee-Bettwäsche mehr, und ich wette, dass du deine Blümchen-Gummistiefel auch nicht mehr hast.» Ich bin verwundert, dass er sich daran noch erinnern kann. «Du warst in meinem Zimmer? Woher weisst du das mit der Bettwäsche?» Kai grinst. «Die Tür war geöffnet. Ich habe nur kurz reingesehen.»

Als ich meine Zähne fertig geputzt habe und schon fast aus dem Badezimmer raus bin, drehe ich mich kurzentschlossen um und gebe Kai einen Kuss auf die Wange. «Schön, dass du da bist.» Seine Haut fühlt sich sanft und warm an. Schnell, ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten, husche ich in mein Zimmer und schlüpfe unter die blauweiss gestreifte Bettdecke.

***
Wie würdet ihr reagieren, wenn ihr eure Schwester oder euren Bruder nach so langer Zeit wiederseht?
Ich glaube, ich wäre im ersten Moment auch ziemlich überfordert 😅

Der verbotene Bruder | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt