7 Der Waldsee

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Ab jetzt kommt es mir vor, als würde sich alles in Zeitlupe abspielen. Meine Lippen beginnen zu beben und mein Atem wird mit jedem Atemzug schneller und flacher. Die Augen füllen sich wie von allein mit Tränen, weshalb ich meinen Vater, der in mein Zimmer platzt, nur unscharf erkennen kann. Mit der rechten Hand fasse ich mir an die Brust, die auf einmal schrecklich zu schmerzen beginnt. Ich spüre wie meine gesamte Kraft meinen Körper verlässt. Obwohl das Fenster geöffnet ist und kalte Luft reinkommt, fange ich an zu glühen. Meine Wangen beginnen sich zu röten. Schmerzerfüllt schreie ich und schlage um mich. Das kann doch alles nicht wahr sein. Kai ist weg und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass er wieder kommt.

Geschieht mir doch Recht. Ich hätte den Brief nicht schreiben sollen. Ich hätte zuvor meine Gedanken verstehen sollen. Wäre ich doch nur nicht krank vor Liebe gewesen. Es hat so sehr geschmerzt, ihm nicht näher sein zu können und doch war dieser Liebesbrief der falsche Weg gewesen. Ich hätte selbst reden und mich nicht dem Brief anvertrauen sollen. Mein Verlangen nach Kai hätte ich ihm persönlich gestehen sollen, sodass er meine Gefühle und verliebten Blicke hätte erkennen können. Ich hätte ihm zeigen können, was diese unerwiderte Liebe mit mir machte.

Mein Vater versucht mich festzuhalten, doch ich schlage ihn von mir weg. Er fragt mich erschrocken, was denn nur los sei und wohin Kai verschwunden ist. Ich kann ihm keine Antwort geben. Mein Blick fällt auf den Brief, welcher noch immer auf dem Boden liegt. Vater folgt meinem Blick, bückt sich und hebt ihn auf. Ich will nicht, dass er die persönlichen Zeilen an Kai liest. Ich will ihm sagen, dass er es sein lassen soll, doch ich bringe nichts ausser bitterem Schluchzen aus meiner Seele heraus. Weinend ziehe ich meine Bluse aus, in der ich mich auf einmal schrecklich gefangen fühle. Ich kann kaum atmen. Die salzigen Tränen verkleben meine Wimpern.

Warum musste ich mich auch nur in ihn verlieben? Meinte es das Schicksal denn nicht gut mit mir? Ich habe mir das alles schliesslich nicht ausgesucht, es ist einfach passiert. Mein Vater lässt die Hand mit dem Brief sinken und schaut mich an. Er fragt, was denn nur in mich gefahren sei, sagt, dass ich wahnsinnig bin und jeglichen Verstand verloren habe. Tief hole ich Luft, um endlich sprechen zu können.

«Ich habe mich in Kai verliebt», sage ich mit bebender Stimme die Wahrheit. Wozu soll ich diese noch verstecken? Ich habe sie Kai gestanden und unser Vater weiss nun auch Bescheid. «Ich habe mich in Kai verliebt und ich stehe auch dazu.»

Mein Vater rauft sich die Haare. Er fängt an mir zu sagen, dass das nicht geht und dass dies verboten ist. Ich achte nicht darauf, was er sagt. Seine Worte kommen nicht bei mir an. Ich kann einzig und allein nur an Kai denken. Ich will wissen, wo er ist, ich will bei ihm sein und ihn darum bitten, wieder nach Hause zu kommen. Ich sammle die letzte Kraft, welche in meinem Körper noch übriggeblieben ist, und erhebe mich mit zittrigen Beinen. Ich muss Kai einholen. Ich darf nicht zulassen, dass er verschwindet. Mein Vater will mich noch zurückhalten, doch ich bin schneller und stürme die Treppe runter. Fast falle ich hin. Blitzschnell schlüpfe ich in meine schwarzen Schuhe und renne ziellos nach draussen in den Wald hinein.

Ich weine noch immer und achte nicht darauf, wohin mich meine Beine tragen. Sie laufen wie von allein. Das alles habe ich mir ganz anders vorgestellt. Es ist völlig aus dem Ruder gelaufen. So hätte es nicht enden dürfen. Die Bäume ziehen an mir vorbei und irgendwann stehe ich am Ufer eines Sees. Mitten im Wald. Es ist der See, indem ich früher mit Kai gebadet habe. Ich erinnere mich genau daran, als wäre es erst gestern gewesen. Nur zu gerne würde ich die Zeit zurückdrehen und alle schönen Momente mit Kai nochmal erleben.

Ich entdecke Kai, der am anderen Ufer steht und mir zu winkt. «Kai?», rufe ich überrascht, doch es kommt keine Antwort. «Kai!», rufe ich nochmal und nochmal: «Kai!» Mein Herz beginnt höher zu schlagen.

Meine Füsse werden plötzlich eiskalt und erst jetzt registriere ich, dass ich bis zu den Knöcheln im kalten Wasser stehe und immer weiter hinein gehe. Das Wasser reicht nun schon bis zu meinen Knien. Ich muss zu Kai, ich muss durch den See schwimmen. Schnell, sonst ist er weg, ehe ich am anderen Seeufer ankomme. Das leise Schwappen der Wellen wirkt unglaublich beruhigend. Das Wasser erreicht schon bald meinen Bauchnabel und kurz darauf meine Brust. Als ich bis zu den Schultern im Wasser stehe beginne ich zu schwimmen. Ich schwimme mit letzter Kraft immer schneller. Ich schwimme auf ihn zu, doch komme ihm nicht näher.

Und plötzlich ist er weg. Von Kai ist nichts mehr zu sehen und ich befinde mich einsam treibend mitten im See, weit weg vom Ufer. «Kai! Wo bist du?», rufe ich schluchzend und drehe mich um meine eigene Achse, doch ich kann ihn nirgends entdecken. Panik breitet sich in mir aus. Wo ist er? Mein Körper wird schwächer und schwächer, bis irgendwann keine Kraft mehr übrigbleibt.

Ich beginne zu sinken und komme nicht mehr an die Wasseroberfläche. Meine Lungen füllen sich mit Wasser und beginnen schrecklich zu schmerzen. Der Druck geht nicht mehr weg. Er bleibt.

Und auch bei meinem letzten Atemzug denke ich nur an ihn.

Der verbotene Bruder | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt