1 Vorwort

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Ich habe schon immer gewusst, dass ich nicht das erste Kind meines Vaters Michael bin. Er hat daraus kein Geheimnis gemacht. Bevor ich geboren wurde, war er mit einer anderen Frau liiert, mit der er einen Sohn bekommen hatte. Meinen Halbbruder Kai. Jedoch ging die Beziehung schon wenige Monate nach seiner Geburt in die Brüche. Es dauerte nicht lange, bis er meine Mutter Kirsten kennen und lieben lernte und wiederum dauerte es auch nicht lange, bis ich geboren wurde.

Gesehen habe ich Kai allerdings nicht besonders oft, da er mit seiner Mutter fast 800 Kilometer weit entfernt von uns wohnte. Wenn er früher in den Sommerferien bei uns zu Besuch war, haben wir zusammen im Waldsee gebadet und im Sandkasten Sandburgen gebaut. War er über die Weihnachtstage bei uns, haben wir zusammen mit meinen Weihnachtsgeschenken gespielt oder Rudolph mit der roten Nase angeschaut. Wenn mal genug Schnee lag, sind wir mit den Schlitten den Hügel hinter unserem Haus runtergefahren und haben Schneemänner gebaut. Ich habe gerne Zeit mit ihm verbracht, meine Spielsachen mit ihm geteilt und ihn von meinen Süssigkeiten essen lassen. Je älter wir wurden, desto weniger kam er zu uns und irgendwann kam er dann gar nicht mehr. Von da an ging ich allein im Waldsee baden, baute allein Sandburgen und Schneemänner und ass meine Süssigkeiten alle selbst. Anfangs habe ich ihn noch vermisst und mir gewünscht, er würde wieder kommen. Er war mein Freund gewesen, mein Held, mein Vorbild und mein heimlicher Schwarm. Als ich wenig später Mathilda kennenlernte, nahm sie den Platz von Kai ein und von da an, machte und teilte ich alles, was ich früher mit Kai gemacht und geteilt habe, mit Mathilda. Ich habe Kai nie vergessen. Er ist in meinen Erinnerungen nur weiter nach hinten gerutscht, aber nie verblasst.

Bis mein Vater vor zwei Monaten dann um ein Gespräch mit mir bat. Ich erinnere mich an den ernsten Gesichtsausdruck, den er aufgesetzt hatte, und mein erster Gedanke war, dass meine Oma verstorben sei. Doch stattdessen verkündete er, dass Kais Mutter auf Grund von ihrer Arbeit als Meeresforscherin für ein halbes bis ganzes Jahr nach Japan reisen musste, um dort vor Ort zu forschen. Deshalb würde Kai in dieser Zeit bei uns unterkommen. Es ist Kais Idee gewesen, zu uns zu ziehen und es wäre doch schön, ihn mal wieder zu sehen.

In der darauffolgenden Nacht habe ich lange gegrübelt und phantasiert, wie es wohl sein wird, wenn ich Kai wieder sehen würde. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war ich circa sechs Jahre alt gewesen. Seither ist viel passiert. Ich überlegte, ob er wohl immer noch die braunen, wuscheligen Haare hatte und man immer noch vierundzwanzig Sommersprossen auf seiner Nase abzählen konnte. In den nächsten Wochen begann mein Vater dann sein Büro auszumisten, damit Kai ein eigenes Zimmer haben würde. Ich half ihm dabei, die ganzen Bilder, Akten und Ordner in den Keller zu tragen, wo er sich in der Ecke übergangsmässig seinen Arbeitsplatz wieder aufbaute. Ich fuhr mit ihm zum Möbelmarkt, um ein neues Bett, einen neuen Kleiderschrank und einen neuen Schreibtisch zu kaufen. Die Zeit verging schneller als gedacht und der Tag, Kais Ankunft rückte immer näher. An einem Samstag war es dann endlich so weit.

Der verbotene Bruder | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt