4 Der Annäherungsversuch

729 14 7
                                    

Ja, ich habe mich in Kai verliebt und mir ist immer noch bewusst, dass das überhaupt nicht sein darf. Diese Liebe zu ihm hat keinerlei Zukunft. Anfangs habe ich mich gegen meine Gefühle gewehrt, aber mit der Zeit komme ich nicht mehr dagegen an.

Wenn ich abends im Bett liege, hoffe ich jedes Mal, dass ich Kai in meinem Traum wieder begegne. Ich kneife die Augen fest zu und wiederhole ganz oft seinen Namen, nicht zu laut, damit es ja keiner mitbekommt. In jedem Traum werden wir leidenschaftlicher miteinander und jeder Traum ist besser, als es der vorherige war. Und wenn ich mal nicht von ihm träume, wache ich am nächsten Morgen ganz enttäuscht auf und der Tag ist für mich gelaufen.

Es ist ein seltsames Gefühl ihm in meinen Träumen so unglaublich nah zu sein und in der Realität nicht. Also beginne ich auch tagsüber von ihm zu träumen. Teilweise bin ich so in meinen Tagträumereien versunken, dass ich gar nicht merke, wenn man mich anspricht, auch in der Schule. Mit meinen Gedanken bei Kai starre ich aus dem Fenster. Mein Hirn blendet die Stimme des Geschichtslehrers komplett aus. Daraufhin bekomme ich einen Eintrag ins Klassenbuch wegen fehlender Aufmerksamkeit. Doch das stört mich nicht wirklich.

In den Pausen halte ich auf dem Schulhof Ausschau nach Kai. Meistens beobachte ich ihn, wie er mit seinen Freunden Basketball spielt oder auf einem der Pingpongtische rumsitzt. Ich stelle mir vor, wie ich zu ihm rübergehe und ich ihn küsse, so wie ich es in meinen Träumen mache. In einem Moment glaube ich, er könnte es erwidern, im anderen zweifle ich daran. Er würde mich wahrscheinlich für verrückt halten, und das will ich auf keinen Fall. Ich wünsche mir, dass er für mich genauso empfindet wie ich für ihn. Wenn er nicht zu Hause ist, tue ich nichts anderes, als sehnsüchtig darauf zu warten, dass er endlich wiederkommt. Währenddessen stelle ich mir vor, wie wir uns lieben und die Finger nicht voneinander lassen können.

Die Träumerei ist etwas, das nur mir gehört. Niemand weiss davon und keiner kann sie mir wegnehmen. Sie ist mein kleines, ganz persönliches Geheimnis.

Wach liege ich in meinem Bett und warte, bis ich einschlafe und wieder von Kai träumen kann. Ich träume nun schon mehr als einen Monat von ihm. Zwar geniesse ich es jedes Mal sehr, doch es genügt mir nicht mehr. Ich habe Verlangen nach mehr. Verlangen nach dem Echten. Ich will diese Leidenschaft mit Kai nicht nur in meiner Fantasie, sondern auch in der Realität erleben. Ich habe nicht vergessen, dass Kai mein Halbbruder ist, das ist mir durchaus bewusst. Allerdings ist Aufgeben keine Option für mich, das war es noch nie. Dieser kleine Funke von Hoffnung übertrifft die vielen Funken der Aussichtslosigkeit. Ich muss es einfach probieren und Kai näherkommen. Nur so kann ich herausfinden, ob er eventuell ähnlich denkt und fühlt wie ich. Wenn ich es nicht wage, werde ich es nie erfahren. Dann werde ich in sechzig Jahren, wenn ich alt und grau bin, dasitzen und mich fragen: Was wäre gewesen, wenn? Ich überlege, wann ich den Annäherungsversuch am besten starten soll, doch ich stelle fest, dass es den perfekten Moment gar nicht gibt. In dieser Sache lautet mein Motto: Je schneller, desto besser. Meine Eltern schlafen schon, aber ich bin mir sicher, dass Kai noch wach ist. Er ist meist der Letzte, der von uns schlafen geht. Ich blicke auf den Wecker auf meinem Nachttisch. 23:37 Uhr.

Ich schlage die Bettdecke zurück, erhebe mich und bewege mich auf zittrigen Beinen auf die Zimmertür zu. Doch, ehe ich die Klinke runter drücke, drehe ich mich um und raufe mir die Haare. Mir ist bewusst, dass es danach kein Zurück gibt. Einmal gesagt und getan, so kann man es nicht ungeschehen machen. Ich denke nicht daran, was passiert, wenn er mich zurückweist, ich kann nur daran denken, wie er meine Gefühle erwidert und wir eine geheime Liebelei führen können.

Ich nehme dann doch all meinen Mut zusammen und klopfe an seine Tür. Das ist wohl das Mutigste, was ich je getan habe und auch je tun werde, denke ich. In seinem Zimmer ist es dunkel. Ich höre sein gleichmässiges Atmen. Überrascht davon, dass er schon schläft, stehe ich erstmal ratlos da. Was mache ich jetzt? Ich bin kurz davor wieder umzudrehen, doch entscheide mich dagegen. Jetzt oder nie. Ich bewege mich langsam im Dunkeln auf die Ecke zu, in der sein Bett steht. Damit ich auch nicht über etwas stolpere oder mir den Zehen anstosse, sind meine Schritte Zentimeter klein. Die Hände, welche ich vor mir halte, erfassen den Rand seines Bettes und ich setzte mich auf die Bettkante. «Kai», flüstere ich in die Dunkelheit hinein und rüttle an seinem Arm, vermute ich. Von ihm kommt nur ein Grummeln. Ich flüstere seinen Namen lauter und rüttle an seinem Arm stärker. Langsam wacht er auf. «Bianca?», fragt er verwirrt und verschlafen. Ich nicke, was er natürlich nicht sehen kann. Bevor er etwas sagen oder tun kann, drücke ich ihn leicht beiseite und schlüpfe unter seine Decke. Vor lauter Aufregung ist mir schlecht. Mein Herz schlägt so laut und schnell, dass ich Angst habe, er könnte es bemerken.

«Was machst du da?», fragt Kai etwas überrascht. «Ich konnte nicht schlafen», lüge ich und rücke noch näher an ihn heran. Ich spüre, dass er nichts weiter als eine Boxershorts trägt. Meine Beine berühren seine und ich höre sogar sein Herz schlagen. So nahe bin ich ihm noch nie gewesen. «Ich dachte vielleicht kannst du auch nicht schlafen.» Kai bleibt stumm. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit sagt er: «Ich habe aber geschlafen. Sehr gut sogar.» Obwohl seine Worte etwas schroff klingen, verspüre ich nicht das Gefühl, dass er mich loswerden will. Also bleibe ich. Obschon ich mich nicht noch enger an ihn anschmiegen kann, da ich schon so nahe bei ihm liege, drücke ich mich erneut an ihn. Er weicht nicht zurück. «Kai?», frage ich in die Dunkelheit hinein, um sicher zu gehen, dass er nicht eingeschlafen ist. «Hm?», macht er.

Ich zögere. «Weisst du ich bin froh, dass du da bist.» Ich lege meine Hand auf seinen nackten Oberkörper. «Mir gefällt es hier auch», entgegnet er. Eine Weile liegen wir so da und ich geniesse es einfach, ihm so nahe zu sein. Die Wärme, die sein Körper ausstrahlt, umfasst mich und ich fühle mich auf einmal federleicht. Ich werde noch mutiger und lasse meine Hand immer wie weiter nach oben fahren, bis ich irgendwann an seiner Wange angelange. Ich drehe seinen Kopf zu mir. Das Mondlicht, welches durch die Vorhänge in das Zimmer scheint, ermöglicht mir seine Umrisse wahrzunehmen. Mit der Hand an seiner Wange ziehe ich ihn an mich, gleichzeitig bewege ich mich vorsichtig auf ihn zu, bis meine Lippen seine berühren und ich ihn küsse.

Dies fühlt sich noch besser an als all die Träume zusammen, denn nun ist es echt. Kai erwidert den Kuss zuerst zwar nicht, aber er wehrt sich auch nicht dagegen, weshalb ich nicht aufhöre ihn zu küssen. Als ich den Druck mit meinem Mund verstärke, erwidert er den Kuss doch und auch er beginnt seine Lippen zu bewegen. Mit der Hand umfasse ich seine Wange fester und auch er schlingt den Arm um mich, um mich an sich zu ziehen. Die Glücksgefühle in meinem Körper überschlagen sich. Sie scheinen regelrecht Saltos zu schlagen, ebenso die Schmetterlinge, welche in meinem Bauch umher tanzen. Ich habe nicht erwartet noch mutiger zu werden, doch ich werde es. Während wir uns also innig und leidenschaftlich küssen, verlässt meine Hand seine Wange und wandert seinen Oberkörper herunter. Vorbei an seiner Brust, weiter über seinen Bauchnabel, über den Bund seiner Boxershorts. Doch, bevor ich weitergehen kann, packt er mein Handgelenk und löst sich von mir. Ich bin völlig perplex. Was ist denn jetzt los?

«Stopp», sagt er etwas ausser Atem. «Das geht nicht.» Er rückt von mir ab. «Kai», beginne ich, doch er unterbricht mich. «Nein, es geht nicht. Ich glaube es ist das Beste, wenn du jetzt gehst.» Er zieht mir die Bettdecke weg. Seine Worte und Taten sind klar. Es bleibt mir nichts anderes übrig als zu gehen. «Kai, ich wollte nicht», starte ich einen letzten Versuch, doch er lässt mich nicht weiterreden. «Geh, Bianca.» Ich gehorche und verlasse voller Scham sein Zimmer. Zurück unter meiner Bettdecke möchte ich mich am liebsten für immer hier verstecken. Was war nur in mich gefahren? Ich bereue den Moment, in dem mich der Mut überkommen hat. Es kommt mir so vor, als seien meine Gefühle nach gerade eben noch stärker und intensiver geworden. Während ich in einem Moment daran zweifle, dass wir eine Zukunft haben können, glaube ich im anderen ganz fest daran. Und dann bin ich mir sicher und beschliesse, zu meinen Gefühlen zu stehen. Wir können eine Chance haben, er weiss es nur noch nicht. Ich werde ihm diese zeigen, das nehme ich mir hier und jetzt fest vor. Ich werde es Kai zeigen und davon wird mich nichts und niemand abhalten können. Ich werde ihn erobern!

Der verbotene Bruder | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt