Kai geht mir seit dem, was in seinem Bett geschehen ist, komplett aus dem Weg, doch das hat meine Gefühle für ihn nicht annähernd verändert. Er vermeidet es im gleichen Raum zu sein, in dem ich bin. Zur Schule fährt er früher los, um nicht mit mir fahren zu müssen. Ein gemeinsames Zähneputzen im Badezimmer findet auch nicht mehr statt. Meine Eltern scheinen nichts zu bemerken und ich bin heilfroh, dass mich Kai nicht verpetzt hat.
Der Versuch, Kai näher zu kommen, ist zwar nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber ein riesiges Desaster ist es nicht gewesen. Kai hat meinen Kuss erwidert. Er hat ihn erwidert. Wenn ich daran denke, überkommt mich das Glücksgefühl immer wieder. Ausserdem bin ich stolz auf mich, dass ich mich überwunden und getraut habe. Ich bin mutig gewesen.
Ich mache mir keine grossen Gedanken darüber, dass er nicht weiter gehen wollte und mich abblitzen liess. Anfangs war es mir peinlich. Doch jetzt bin ich mir sicher, dass er es einfach falsch verstanden hat. Ich bin nicht deutlich genug gewesen. Kai hat nicht begriffen, dass es mir um mehr geht als etwas Einmaliges. Das mit Kai ist nicht einmalig, für ihn mag es aber so ausgesehen haben. Ich habe ihm ja nur die körperliche Nähe gezeigt und nicht meine emotionale. Er ist überfordert gewesen, ich habe ihn ja auch aus dem Schlaf gerissen und dann völlig überrumpelt. Verständlich, dass er so reagiert hat.
Ich werde auf den Boden der Realität zurückgeholt und drücke im letzten Moment auf den roten Knopf, um der Busfahrerin zu signalisieren, dass ich aussteigen will. Der Bus hält abrupt an und die Türen öffnen sich mit einem lauten Zischen. Mein Fahrrad hatte heute Morgen einen platten Reifen, weshalb ich mit dem Bus zur Schule fahren musste. Nun muss ich das letzte Stück durch den Wald zu Fuss gehen. Ich halte Ausschau nach Kai, ganz automatisch, doch er ist nirgends zu sehen. Mir fällt ein, dass er heute länger Schule hat als ich und anschliessend mit seinen Freunden Bowling spielen geht.
Ich verspüre das Verlangen mit ihm zu reden. Ich muss ihm unbedingt klar machen, dass er da etwas vollkommen missverstanden hat. Aber wie nur? Zuhause sehe ich ihn eigentlich nur beim gemeinsamen Abendessen mit meinen Eltern, und das ist definitiv nicht der richtige Ort, um mit ihm zu sprechen. Ich könnte ihn in der Schule abfangen, doch da ist er durchgehend von seinen Freunden umgeben. Und wenn ich auch mal früher aufstehe und vor ihm das Haus verlasse, um ihm auf den Schulweg zu begegnen? Doch dann fällt mir ein, dass mein Fahrrad erst in die Werkstatt muss, und das geht zu lange. Ich bin so in meinen Gedanken versunken, dass meine Füsse wie von selbst laufen.
Zuhause angekommen krame ich den Schlüssel aus meiner Tasche hervor und leere den knallroten Briefkasten. Ich schaue nach, ob sich zwischen der Zeitung, der Werbung und den Rechnungen meiner Eltern irgendwo einen Briefumschlag für mich verbirgt. Ich entdecke einen weissen Briefumschlag, der an Kai adressiert ist. Die Briefmarke verrät mir, dass der Brief aus Japan kommt, von seiner Mutter. Ich halte inne und starre auf die geschwungene Schrift. Ist das die Idee? Wenn ich Kai einen Brief schreibe, dann würde er diesen bestimmt lesen. Ja, das ist die perfekte Lösung, um mit Kai zu kommunizieren. Er würde mir sowieso aus dem Weg gehen und abblocken, wenn ich versuchen würde mit ihm zu reden. So ein Brief ist persönlicher als eine Nachricht auf dem Handy. Ich muss ihm jetzt einfach gestehen, was in mir vorgeht. Ich will ihm meine rasende Liebe gestehen.
Hin und weg von meinem genialen Einfall schliesse ich eilig die Haustür auf. Ein kurzes Hallo zu meiner Mutter und ich gehe nach oben in mein Zimmer. Den Rucksack werfe ich unsanft auf mein Bett. Eigentlich warten einige Hausaufgaben darauf, von mir erledigt zu werden, doch ich kann mich jetzt sowieso nicht konzentrieren. Mathilda lässt mich morgen bestimmt von ihr abschreiben.
Aufgeregt setzte ich mich sofort auf den Drehstuhl und krame meinen Schreibblock aus der Schublade hervor. Meine Hände zittern so sehr, dass ich kaum den Kugelschreiber halten kann, so aufgeregt bin ich. Wie fange ich am besten an? Ich suche nach den richtigen Worten, da ich noch nie einen Liebesbrief geschrieben habe. Ich muss wohl einfach mein Herz sprechen lassen.
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Der verbotene Bruder | ✔️
Short StoryBianca ist in Kai verliebt. Er sieht unheimlich gut aus, ist gross, hat dunkle Haare und vereinzelte Sommersprossen auf der Nase. Und leider ist er auch Biancas Halbbruder. Deshalb dürfte diese Liebe gar nicht sein. Doch Gefühle kennen keine Grenzen...