«Der Grund meiner weiten Reise ist die sterbliche Bianca, welche sich in den Bruder Kai verliebt hat», sagt Hermes.
Amor nickt lächelnd und schwärmt: «Ach, ist die Liebe nicht etwas wunderschönes?»
«Aber gewiss ist sie das», stimmt Hermes dem Liebesgott zu, «doch in dieser Situation ist sie mehr ungünstig als wunderschön. Bei den Sterblichen wird der Inzest nicht gerne gesehen.»
«Der Pfeil sollte sie nicht treffen, lieber Hermes. Es war keine Absicht», beteuert Amor und Hermes streitet ab, dies so gemeint zu haben.
«Du bist der Liebesgott, Amor. Als Gott der Liebe verfügst du über die Macht zu entscheiden, wer wen liebt. Ich bin hier und bitte dich die unerwiderte Liebe zu unterbrechen und diesem ganzen Schrecken ein Ende zu setzen.»
Verwundert betrachtet Amor seinen Gast, welcher mit flehenden Augen vor ihm sitzt. «Du willst, dass ich die Liebe beende?» Hermes nickt, zwar etwas zögerlich, aber es ist ein deutliches Nicken.
Amor scheint zu überlegen, ehe er sagt: «Nun gut, Hermes. Aber du wirst in meiner Schuld stehen.» Froh ist Hermes über die Zustimmung Amors. Auch wenn er Amor etwas schulden würde, so wollte er Bianca um jeden Preis vor ihrem Unglück beschützen.
«Ich danke dir, Amor», sagt er und macht sich auf den Weg zurück in den Olymp.
Ich habe mir eigentlich vorgenommen auf Kai zu warten, doch als es spät wurde, und Kai immer noch nicht da war, bin ich eingeschlafen. Ein Blick auf mein Handy am nächsten Morgen genügt, um zu wissen, dass ich mich beeilen muss, wenn ich den Bus noch rechtzeitig erwischen will. Im Haus ist es ruhig. Meine Mutter schläft noch, da sie heute einen freien Tag hat und mein Vater ist bereits zur Arbeit gegangen.
Ich wundere mich, denn normalerweise ist Kai vor mir wach, lässt seine Musik laufen und nimmt keine Rücksicht auf die, die noch in ihren Träumen schlummern. Obwohl ich es eigentlich lassen sollte, öffne ich leise seine Zimmertür und werfe einen Blick hinein. Sein Bett ist unbenutzt und der Brief liegt ungeöffnet an derselben Stelle, an den ich ihn gestern hingelegt habe. Ist er denn schon los? Nein, mit dem Fahrrad wäre das viel zu früh. Vor allem hätte er doch den Brief gelesen, wenn er zu Hause gewesen wäre.
Ich laufe ans andere Ende des Flurs und betrete das Zimmer meiner Eltern. Die Rollladen sind runtergelassen. «Mama?», frage ich in die Dunkelheit hinein, und dann nochmal, nur etwas lauter: «Mama?»
Ein leises Brummen kommt zurück. «Wo ist Kai? Er hat nicht zuhause geschlafen.» Meine Mutter gähnt und sagt mit schläfriger Stimme, dass er bestimmt bei einem Freund geschlafen hat.
Ich ziehe leise die Tür hinter mir zu und rede mir ein, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Es bleibt mir wohl nichts anders übrig, als in die Schule zu fahren und zu hoffen, Kai dort anzutreffen.
Und das tue ich. Ich entdecke ihn bei den Fahrradunterständen. Er wickelt das Kettenschloss so um sein Rad, dass es nicht gestohlen werden kann. «Hallo», sage ich, als ich einige Schritte auf ihn zugegangen bin. Er blickt hoch. Sein Gesichtsausdruck wirkt erstaunt, als er mich sieht. Er erhebt sich und fährt sich durch sein dunkles Haar. «Hallo», sagt er. «Wo warst du? Du hast nicht zu Hause geschlafen.» Er räuspert sich: «Ich habe bei Tobi übernachtet.» Ich nicke. Es ist das erste richtige Gespräch, welches nicht gezwungenermassen zuhause am Esstisch stattfindet. Ich muss zugeben, dass ich seine Stimme vermisst habe. «Kommst du denn heute Abend nach Hause?», frage ich hoffnungsvoll. «Denke schon», sagt er kurz angebunden und fügt hinzu: «Muss los.»
«Okay, dann bis heute Abend», sage ich, ehe er sich umdreht und verschwindet.
Den ganzen Vormittag über habe ich ihn kein zweites Mal zu Gesicht bekommen. So schnell ich kann, laufe ich von der Bushaltestelle durch den Wald nach Hause. Kai kommt zwar später als ich, aber ich möchte ihm nicht verschwitzt in den dreckigen Klamotten vom Tag begegnen. Dieser Moment wird ganz besonderes sein, da möchte ich natürlich auch hübsch aussehen. Ich springe unter die Dusche und föhne danach meine Haare. Anschliessend trage ich etwas Mascara, Rouge und rosaschimmernden Lipgloss auf.
Zufrieden betrachte ich mein Ebenbild im Spiegel. Ich bin mit dem Endergebnis mehr als zufrieden. Kai werden bestimmt die Augen ausfallen. So kann er mir bestimmt nicht widerstehen.
Ich höre, wie unten die Eingangstür ins Schloss fällt und jemand die Treppe hochkommt. An den Schritten erkenne ich, dass es Kai sein muss. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Die Tür nebenan fällt ins Schloss. Vor lauter Aufregung wird mir richtig schlecht. Ich warte, bis Kai zu mir rüberkommt. Ich warte und warte und warte. Doch Kai kommt nicht. Was er wohl so lange macht? Hat er den Brief denn etwa nicht gesehen? Nein, unmöglich. Er muss ihn gesehen haben. Der Brief ist so offensichtlich platziert, er lässt sich gar nicht übersehen.
Ich lausche. Von nebenan ist rein gar nichts zu hören. Ich entscheide mich schon fast dazu, zu ihm rüberzugehen. Wenn er nicht zu mir kommt, dann gehe ich halt zu ihm. Doch das ist nicht nötig, denn meine Tür wird aufgerissen und ich erblicke einen ziemlich wütend aussehenden Kai vor mir. Er kommt rein und schlägt die Tür so fest zu, dass sie fast aus den Angeln fällt. «Was soll das?!», gibt er zornig von sich und wirft den Brief vor mir auf den Boden. Verdattert sehe ich ihn an und realisiere gar nicht, was gerade passiert. «Bitte Kai, nicht so laut», flehe ich, aus Angst, meine Eltern könnten unser Gespräch mitbekommen. Zwar zügelt er sich in der Lautstärke, doch er kocht noch immer vor Wut. «Was stimmt nicht mit dir? Bist du völlig irre geworden? Du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sowas kannst du doch nicht schreiben!»
Ich bin den Tränen nah, so sehr treffen mich seine groben Worte. «Aber es ist die Wahrheit», gebe ich mit zitternder Stimme zu. Er zieht seine Augenbrauen hoch. «Was für eine Wahrheit? Dass du dich in mich verliebt hast? Dass du mich liebst?» Er zeigt mir den Vogel. «Ja», sage ich leise und beschämt. «Ich weiss auch nicht, weshalb ich dir den Brief so geschrieben habe. Meine Gefühle haben mich einfach überrollt und ich musste es dir einfach sagen. Ich war doch krank vor Liebe. Niemand kann etwas für seine Gefühle.»
Das sonst immer so freundliche Funkeln in seinen Augen ist nun ein zorniges, wütendes geworden. «Niemand verliebt sich in seinen Bruder.» Ich korrigiere ihn und gebe nun doch sehr viel auf dieses «Halb»: «Halbbruder.» Ich schaue zu Boden, da ich mich nicht traue in seine Augen zu sehen. «Das spielt keine Rolle. Das ist dasselbe.» Er rauft seine Haare und schnaubt. «Ich hätte es merken müssen, schon in der Nacht, als du plötzlich zu mir gekommen bist.»
Für einen kurzen Moment schliesst Kai die Augen und atmet tief ein, um sich zu beruhigen. Dann sagt er mit ruhiger Stimme: «Was auch immer in dich gefahren ist. Sieh zu, dass das aufhört. Wage es nicht noch einmal, solche Sachen zu sagen, zu schreiben oder zu denken. Das ist widerlich und vor allem peinlich.» Völlig perplex lässt er mich zurück. Ich höre, wie er nebenan beginnt seine Sachen zu packen und anschliessend die Treppe runter stampft. Er sagt zu unserem Vater, dass er jetzt geht und nicht wieder zurückkommt. Dann fällt die Haustür geräuschvoll ins Schloss.
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Der verbotene Bruder | ✔️
Short StoryBianca ist in Kai verliebt. Er sieht unheimlich gut aus, ist gross, hat dunkle Haare und vereinzelte Sommersprossen auf der Nase. Und leider ist er auch Biancas Halbbruder. Deshalb dürfte diese Liebe gar nicht sein. Doch Gefühle kennen keine Grenzen...