Die Zeit vergeht und inzwischen wohnt Kai schon seit fünf Wochen bei uns. Er hat sich gut bei uns eingelebt, beim gemeinsamen Essen herrscht keine unangenehme Stille mehr, er beteiligt sich am Familienleben und hat Freunde in der Schule gefunden. Da er für sein letztes Jahr auf dieselbe Schule geht wie ich, fahren wir jeden Morgen die zwanzig Minuten zusammen mit dem Fahrrad durch den Wald. Meistens schweigen wir den ganzen Weg, weil wir beide noch viel zu müde sind, um uns zu unterhalten. Ich habe Kai und Mathilda miteinander bekannt gemacht, allerdings verstehen sie sich nicht sonderlich gut. Mathilda meint, Kai sei eingebildet und man könne mit ihm kein anständiges Gespräch führen. Kai sagt, dass Mathilda schrill sei und keine Sekunde ruhig sein könne.
Ich erwische mich immer öfter dabei, wie ich Kai heimlich beobachte. Wenn er sich ein Müsli zubereitet, sich die weissen Zähne putzt oder seine Hausaufgaben erledigt. Gerade sieht er sich einen Krimi im Fernsehen an und ich ertappe mich wieder dabei, wie ich meine Augen auf ihn, und nicht auf die Zeilen meines Romans richte. Auf sein wunderschönes Gesicht mit den dunklen Augen und den langen Wimpern, auf seine vollen Lippen und auf seine gerade Nase mit den vielen Sommersprossen.
Es ist später Samstagnachmittag. Wir sind alleine, da meine Eltern an einem Geburtstag eingeladen sind. Kai und ich hatten keine Lust mitzugehen. «Früher haben wir immer zusammen Rudolph mit der roten Nase angesehen», sage ich zu ihm, um ein Gespräch zu beginnen. Er löst seinen Blick vom flackernden Bildschirm und sieht mich an. «Stimmt», sagt er, «daran kann ich mich noch erinnern.» Nach einer kurzen Pause fährt er weiter: «Aber das ist auch ziemlich spannend.» Ohne zu überlegen stehe ich vom Sessel auf und setze mich im Schneidersitz neben ihn auf das Sofa. So nahe, dass mein Knie fast seinen Oberschenkel berührt. Aber eben nur fast. «Worum geht es denn?» Kai antwortet: «Ein Mörder bringt junge Frauen um, die nachts allein unterwegs sind und am Ende stellt ich heraus, dass der Täter der Ehemann der leitenden Kommissarin ist.» Ich bin verwirrt. «Aber wie kannst du das wissen? Der Krimi ist doch noch gar nicht zu Ende. Du hast doch erst vor einer halben Stunde angefangen.»
«Ich kenne diesen Krimi schon», erklärt Kai. «Und du schaust ihn dir nochmal an?»
«Ja.» Ich klappe meinem Roman zusammen, ohne mir zu merken auf welcher Seite ich verblieben bin und widme meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm.
Um ehrlich zu sein nur meine halbe Aufmerksamkeit, denn ich spähe immer und immer wieder zu Kai hinüber, der gebannt dem Geschehen folgt. Gerade schlägt der Täter ein erneutes Mal zu. Ich kneife schnell die Augen zusammen. Solche brutalen Filme mag ich nicht. Kai bemerkt es und fragt, ob wir was anderes schauen sollen. Obwohl ich verneine, schaltet er den Fernseher aus.«Lass uns Rudolph mit der roten Nase anschauen», schlägt er vor und sein Vorschlag gefällt mir. Ich stehe auf und öffne eine unordentliche Schublade, in denen sich unsere Filmesammlung befindet, und lege die besagte DVD in den Player ein. Das Intro beginnt. Als ich mich wieder auf das Sofa setze, setzte ich mich noch näher zu Kai, damit mein Knie nun wirklich seinen Oberschenkel berührt, doch Kai rückt ein Stück von mir weg. Ich rede mir ein, dass es nichts mit mir zu tun hat. Schweigend sehen wir uns den Film an.
Aus einem Film wurden zwei, und mittlerweile sind wir schon beim dritten Film angelangt. Ich merke wie meine Augenlider immer wie schwerer werden und sie teilweise ganz zufallen. Das entgeht auch Kai nicht, denn er schaltet den Fernseher aus und flüstert in mein Ohr: «Komm, wir gehen schlafen. Es ist schon spät. Wer weiss wann Papa und Kirsten nach Hause kommen.»
Ich gehorche ihm, erhebe mich und tappe im Halbschlaf die Treppe hoch. Obwohl ich allein laufen kann und es nicht nötig ist, fasse ich Kai am Arm, um mich an ihm abzustützen. Er entzieht sich mir nicht, sondern bringt mich in mein Zimmer. «Gute Nacht», sagt er und schliesst die Tür. Ich ziehe mich nur noch aus und lege mich, ohne die Zähne zu putzen, ins Bett. Das Fenster ist gekippt, sodass frische Luft hineinkommt. Es dauert nicht lange, bis ich tief und fest in den Schlaf gesunken bin und ich mich im Traum verliere. Denn in dieser Nacht träume ich zum ersten Mal von Kai.
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Der verbotene Bruder | ✔️
Short StoryBianca ist in Kai verliebt. Er sieht unheimlich gut aus, ist gross, hat dunkle Haare und vereinzelte Sommersprossen auf der Nase. Und leider ist er auch Biancas Halbbruder. Deshalb dürfte diese Liebe gar nicht sein. Doch Gefühle kennen keine Grenzen...