Kapitel 23

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Nach einigen Minuten hatte ich mich wieder soweit beruhigt und war mittlerweile schon umgezogen. Ich war gerade dabei, meine Sachen aufzuräumen, als Gabi in die Umkleide kam. "Du bist ja schon fast fertig.", stellte sie fest  Ich nickte nur und zwang mich zu einem kleinen Lächeln. Ich hoffte sie würde mir nicht anmerken, dass ich geweint hatte. Aber genau darauf sprach sie mich nun an.
"Kann es sein, dass du geweint hast?", fragte Gabi mich, worauf ich jedoch keine Antwort gab. "Lena, hör mal. Ich bin nicht nur dafür da, um dir etwas beizubringen, sondern auch dafür um dir zuzuhören.", erklärte meine Mentorin. "Wenn du also irgendein Problem hast oder du einfach mal Redebedarf hast, dann kannst du auch was das angeht zu mir kommen.", fügte sie hinzu. "Ich hab kein Problem, mir geht's gut. Aber Danke für den Hinweis.", erwiderte ich und Gabi verschränkte die Arme. "Wir wissen beide, dass es nicht so ist.", stellte sie klar. "Und wenn unsere Zusammenarbeit hier funktionieren soll, müssen wir ehrlich miteinander sein. Ich kann dich nicht mehr mit zu Einsätzen nehmen, wenn ich weiß, dass dich irgendwas beschäftigt und du nicht bei der Sache bist." Mir wurde klar, dass sie nicht locker lassen würde. Trotzdem gab ich nicht nach.
"Ich bin vollkommen bei der Sache!", erwiderte ich gereizt, was ich jedoch sofort bereute. "Entschuldige.", sagte ich deshalb sofort. "Aber ich bin in der Lage, privates und berufliches voneinander zu trennen. Solange ich bei der Arbeit funktioniere, kann es dir doch egal sein, was privat bei mir los ist."
Das war ich nun seit Jahren gewöhnt, denn bisher hatte sich kein Ausbilder dafür interessiert. "Das ist es mir aber nicht.", antwortete Gabi. "Und auch den anderen ist es nicht egal, weil wir uns hier umeinander kümmern. Uns interessiert es, warum du nachts lieber hier bist anstatt zu Hause oder warum du so schreckhaft bist. Ganz zu Schweigen von der Tatsache, warum dich ein Anruf so aus der Fassung bringt, obwohl sich angeblich nur jemand verwählt hat. Du bist es vielleicht nicht gewohnt, dass sich jemand um dich sorgt, aber genau daran wirst du dich wohl oder übel gewöhnen müssen. Zumindest während deiner Ausbildung hier."
Und damit hatte Gabi nun definitiv einen wunden Punkt getroffen. Ich war es nicht gewohnt, dass man sich für mich oder meine Probleme interessierte. Bis jetzt hatte ich im Leben immer alleine klarkommen müssen, egal ob privat oder beruflich. Und jetzt sorgte man sich plötzlich um mich und das, obwohl diejenigen mich erst seit kurzer Zeit kannten. Das war gerade so unverständlich und einfach zu viel für mich, weshalb mir die Tränen kamen. Ich setzte mich hin, vergrub den Kopf in den Händen und begann zu weinen. Es zu unterdrücken war unmöglich.
Ich hörte Gabi seufzen und hörte dann, wie sich Schritte näherten und sie sich letztendlich neben mit nieder ließ. "Komm mal her, Liebes.", sagte meine Mentorin ruhig und zog mich an sich. Es hatte etwas von einer Mutter, die ihr weinendes Kind in den Arm nahm und zuerst wollte ich das nicht zulassen. Jedoch merkte ich, dass mir diese Geste gerade unheimlich gut tat und ich auf einmal wirklich alles raus lassen konnte. Ich vertraute Gabriele und dieses Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit hatte ich noch nie wirklich verspürt.
Und offenbar hatte genau das mir all die Jahre über gefehlt, eine Schulter zum Anlehnen. Jemand, der mir Trost spendete und das aufrichtig, ohne mich zu verurteilen. Gerade war niemand da, der mich als schwach oder irgendwas dergleichen nannte, so wie es meine Mutter oft getan hatte. Und genau deshalb konnte ich all diese Emotionen raus lassen, die sich so lange angestaut hatten und war dabei nicht wie sonst alleine.
Dementsprechend dauerte es ein wenig, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte und Gabi ließ mir die Zeit. Irgendwann stand sie auf um aus ihrem Schrank eine Packung Taschentücher zu holen, von denen sie mir eines reichte. Ich wischte mir die Tränen ab und putzte mir die Nase, während Gabi sich wieder neben mich setzte.
"Jetzt erzähl mir mal was los ist.", bat sie mich. "Du kannst mir vertrauen, versprochen." Und nachdem ich ihr glaubte, begann ich schließlich ihr alles zu erzählen. Dabei ließ ich wirklich kein einziges Detail aus und mit jedem Wort, das mir über die Lippen kam, fühlte ich mich besser. Und Gabriele hörte mir wirklich aufmerksam zu. Die ganze Zeit über sagte sie kein Wort und ließ mich dafür reden. Ich merkte, dass es ihr wirklich wichtig war, das ich alles raus ließ. Und wie ich selbst nun merkte, war das bereits überfällig gewesen.
Ich begann ganz früh mit meiner Erzählung. Berichtete von meiner Kindheit, die eigentlich keine war, wie Biggi mir bereits begreiflich gemacht hatte. Sagte aufrichtig, dass mein Vater uns verlassen hatte, als ich noch klein war. Auch ließ ich die Geschichte mit meiner Schwester nicht aus, die gestorben war, als ich mit ihr alleine gewesen war. Dafür gab mir meine Mutter bis heute die Schuld und ich mir selbst auch.
"Sie war herzkrank, genau wie ich. Allerdings.. hat man es bei ihr erst festgestellt, als es zu spät war." Meine Stimme zitterte, als ich davon sprach. "Deshalb ging dir der Fall mit dem Kleinen so nah.", schlussfolgerte meine Mentorin und ich nickte. Bei mir hatte man es bereits in meinen frühen Lebensjahren festgestellt und beobachtet. Und seit einer Operation mit 15 hatte ich keine Probleme mehr. Die Krankheit war erblich bedingt und warum es bei meiner Schwester nie aufgefallen war, wusste ich bis heute nicht.
Daraufhin folgte dann jedoch mein Werdegang von der Schule bis zum Studium, denn ich wollte jetzt nicht weiter darüber reden. Alleine schon diesen Bruchteil in Worte zu fassen war schon schwer genug gewesen. Ich erzählte Gabi von dem ganzen Druck und Stress, der auf mir gelastet hatte, denn meine Mutter hatte sich nur mit purer Perfektion zufrieden gegeben. Das war schon immer so gewesen und das würde sie wahrscheinlich nie ablegen. Ich gab zu, dass auch ich mit der Zeit so geworden war. Es muss immer alles perfekt sein und gradlinig laufen, Fehler dürfen mir nicht passieren.
Ich beichtete Gabi das, was Biggi ebenfalls schon wusste. Die Tatsache, dass ich mich gegenüber meinen Kollegen oft nicht fair verhalten hatte, um erfolgreich zu sein. Vor allem da meine Mutter in der Klinik, in der ich bis vor kurzem gearbeitet hatte, eine hohe Stellung genoss, war der Druck nochmal gewachsen. Ich musste die beste Assistenzärztin sein, in der Fachrichtung, die sie für mich ausgewählt hatte. Die Chirurgie.
Und das wäre die letzte Fachrichtung gewesen, die ich mir ausgesucht hätte. Nirgends war das Konkurrenzdenken größer und nirgends hielten die Ärzte und Ärztinnen so viel von sich selbst wie es Chirurgen taten. Das galt natürlich nicht für alle, aber für viele und man musste taff sein, wenn man die Ausbildung durchhalten wollte. Denn nur wenige schafften es. Und ich musste sie als Tochter einer der angesehensten Chirurginnen zwangsläufig schaffen, eine andere Möglichkeit kam damals definitiv nicht in Frage. Das hätte regelrecht für einen Skandal in der Klinik gesorgt.
Alleine schon die Tatsache, dass ich das Krankenhaus nun verlassen hatte, dürfte ordentlich für Furore gesorgt haben. Der Plan meiner Mutter hatte nämlich so ausgesehen, dass ich dieses irgendwann als Chefärztin leitete, was jedoch auch nie in meinem Interesse gewesen war. Und nach der Trennung von meinem Freund, der ja Oberarzt gewesen war und mich betrogen hatte, hatte ich einen guten Grund gehabt um zu gehen. Das sah Gabriele genauso und auch die Tatsache, dass ich mit niemandem außer dem Chefarzt über meine Kündigung und Pläne gesprochen hatte, konnte sie nachvollziehen.
Vor allem als ich ihr erzählte, wie es sich nach der Trennung entwickelt hatte. Mein Ex-Freund war gefeuert worden, nachdem er mir während der Arbeit keine Ruhe gelassen hatte und mir auch außerhalb der Klinik aufgelauert war. Angeblich nur, um unsere Beziehung zu retten, allerdings war mir inzwischen klar das er nur mit mir zusammen gewesen war, aufgrund meiner Mutter. Denn wer mit ihr zu tun hatte, kam auf der Karriereleiter ganz weit nach oben, sofern man tat was sie wollte. Und irgendwie hatte er es geschafft, sie so um den Finger zu wickeln, das sie mir nicht glaubte wie aggressiv er werden konnte. Allerdings hatte mir das, vor allem in den letzten Wochen vor meinem Umzug, deutlich bewiesen.
"Und warum warst du nicht bei der Polizei?", wollte Gabi wissen, nachdem ich ihr genauer von den Vorfällen berichtet hatte. "Das war ich doch!", schluchzte ich. "Ich war da, aber die sagten mir sie könnten nichts für mich tun! Da muss erst etwas handfestes passieren und ich hatte doch sowieso keine Beweise!", erklärte ich ihr unter Tränen. "Und.. und außerdem wäre ich ja schon viel früher gegangen. Bevor es so schlimm wurde. Ich hatte sogar schon eine Stelle an einer Klinik in Bayern, nur.."
Die nächsten Worte, die eigentlich hätten folgen sollen, blieben mir regelrecht im Hals stecken. Sie bildeten einen festen Kloß, der es mir kaum noch möglich machte zu atmen oder zu sprechen. Zumindest kam es mir so vor.
"Nur was?", fragte Gabi alarmiert. "Ich.. ich war.. schwanger.", presste ich schließlich hervor. "Als ich es herausgefunden habe, war ich in der sechsten Woche und.." Erneut brach ich ab. "Ich wollte nie Kinder.", gab ich zu. "Ich bin mit der Überzeugung groß gezogen worden, dass Kinder der Karriere nur im Weg stehen und man deshalb als Mutter selbst auf der Strecke bleibt. Naja.. ich hab es meinem Ex trotzdem erzählt, irgendwie hielt ich es für richtig, dass er es weiß. Und er hat sich gefreut. Zu der Zeit waren wir noch zusammen und eigentlich hatte ich mich ja trennen wollen, aber er war plötzlich wie ausgewechselt. Er hat sich plötzlich um mich gekümmert und dann hab ich den Gedanken über eine Trennung doch nochmal verworfen. Und in der anderen Klinik habe ich auch abgesagt.", berichtete ich.
"Ich habe meinen Ex darum gebeten, es für sich zu behalten. Jedenfalls bis ich mir im Klaren darüber war, wie es weitergehen sollte. Ob ich.. bereit war, doch ein Kind zu bekommen.", sprach ich weiter. "Lass mich raten.. er hat trotzdem geplaudert, stimmt's?"
Gabi lag vollkommen richtig, deswegen nickte ich. "Ja, das hat er. Nicht mal zwei Tage hat er es ausgehalten und diejenige, zu der er natürlich als erstes gerannt ist, war meine liebe Frau Mama." Ich sah Gabi an, dass sie wohl ahnte, dass das nichts gutes für mich bedeutet hatte. "Ohje.", sagte sie. "Da hat er sich natürlich gerade die richtige ausgesucht.", schlussfolgerte die blonde Ärztin und ich nickte. "Hat er.", stimmte ich ihr zu.
"Ich nehme an, sie war nicht wirklich erfreut über die Nachricht, Oma zu werden.", antwortete Gabi. "Überhaupt nicht.", gab ich zurück. "Sie hat mich vor die Wahl gestellt: entweder meine Karriere und ihre Unterstützung oder das Kind.", fing ich an zu erzählen. "Ich wäre auf ihre Unterstützung nicht angewiesen gewesen. Das war ich nie, nur.. sie befindet sich eben in einer Position, in der es ihr möglich ist, gewisse Dinge zu beeinflussen. Dazu gehört auch, die Karrieren von Menschen zu zerstören, die sich ihr widersetzen."
Gabi hörte mir erneut aufmerksam zu. "Du hast dich also gegen das Kind entschieden?", fragte sie mich. "Oder wo ist es jetzt?", wollte Gabi wissen. "Nach dem Streit mit meiner Mutter, habe ich tatsächlich einen Termin für eine Abtreibung gemacht. Ich hab die Gespräche bei der Beratungsstelle durchgezogen und war mir sicher, dass es das beste für das Kind sein würde. Ich war schließlich dabei, Chirurgin zu werden und ich wollte ja niemals Kinder haben. Wenn einem jahrelang eingetrichtert wird, man würde keine gute Mutter abgeben und Kinder sind nur eine Belastung.. naja, irgendwann glaubt man das dann selbst."
Ich machte eine kurze Pause, da meine Stimme bebte und mir erneut die Tränen kamen. "Ich hab weiter gearbeitet wie zuvor auch und keine Rücksicht auf meine Schwangerschaft genommen. Stundenlange Operationen, 24 Stunden Schichten, zusätzliche Dienste in der Notaufnahme und all das, was eben noch so angefallen ist habe ich wie immer erledigt. Ganz so, als ob nichts anders war. Zu den Untersuchungen musste ich trotzdem gehen und dann habe ich das erste Ultraschallbild gesehen und.. und das erste Mal dieses winzig kleine Herz schlagen gehört."
Ich erinnerte mich noch ganz genau an diese Augenblicke und musste ein wenig lächeln. "Und dabei wurde mir klar, dass ich das mit der Abtreibung nicht durchziehen kann. Ich hab den Termin noch am gleichen Tag abgesagt." Ich musste ein wenig lächeln, da ich immer noch spürte, dass es die richtige Entscheidung gewesen war.
Doch als ich mich wieder daran erinnerte, wie es weiter gegangen war, kehrte die Traurigkeit mit einem Schlag zurück. Auch Gabriele schien für einen Moment erleichtert gewesen zu sein, doch realisierte dann wohl, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte.
„Was ist dann passiert?“, fragte sie vorsichtig. „Du hast angegeben kinderlos zu sein und.. Helena, wo ist das Kind jetzt?“ Ich merkte, dass es ihr unangenehm war, danach zu fragen. Doch es war für mich nur verständlich, dass sie danach fragte. Das würde ich wohl auch tun, wenn ich diejenige wäre, die einer jungen Kollegin ein offenes Ohr anbot und dann so etwas heraus kam. Und ganz ehrlich wünschte ich mir gerade, ich hätte doch wieder geschwiegen. Denn nun kam es mir so vor, als müsste ich alles nochmal durchleben und das zudem noch stärker als es gewesen war. Ich beschloss deshalb, noch ein paar Details hinzuzufügen, bevor ich zur Hiobsbotschaft kam.
„Ich habe wie gesagt den Termin für die Abtreibung nicht wahrgenommen und nach meiner Schicht im Krankenhaus bin ich gleich in die Stadt gefahren. Dort habe ich einfach schon mal etwas für das Baby gekauft. Einen Strampelanzug und.. einen kleinen Teddybären.“ Wieder musste ich lächeln, aber gleichzeitig musste ich mir dann auch auf die Unterlippe beißen, um nicht in Tränen auszubrechen. „Ich hab mich plötzlich doch so auf dieses Kind gefreut und.. und zu Hause dann gleich im Internet nach Ideen für ein Kinderzimmer gesucht und.. und mir vorgestellt, dass ich doch eine ganz gute Mama werden könnte, wenn ich es wollte. Allerdings habe ich beschlossen meinem Ex und meiner Mutter nicht zu erzählen, dass ich mich dafür entschieden hatte, das Baby zu behalten. Sie gingen also davon aus, dass ich die Abtreibung durchgezogen hatte und das tun sie auch noch bis heute.“
Ich verstrickte mich gerade so sehr in den Kleinigkeiten meiner Erlebnisse, nur damit ich nicht zum Ende kommen musste, welches mir an den Gedanken daran jedes Mal einen verdammt starken Stich ins Herz versetzte. „Ungefähr zwei Wochen nachdem ich die Entscheidung getroffen hatte, das Baby zu behalten, da.. da habe ich auf einmal Schmerzen bekommen und.. und dann war da auf einmal so viel Blut und.. ich.. ich..“
Ich war nun wirklich nicht mehr in der Lage weiter zu sprechen. Stattdessen konnte ich nur noch weinen und schluchzen, so sehr taten diese Erinnerungen, und die damit verbundenen Bilder in meinem Kopf, weh. Wäre Gabi nicht sofort da gewesen, um mich in den Arm zu nehmen und mich fest zu halten, wäre ich vermutlich gänzlich zusammengebrochen.
Wie damals, als es passiert war. Und da war keiner da gewesen, deswegen ließ ich es einfach zu, mich jetzt auffangen zu lassen.

Ich hab dich lieb bis zu den Sternen... und zurück!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt