Für einen Augenblick glaubte Niek, dass sich der Arm bewegen und sich über den Boden ziehen würde, doch das abgetrennte Körperteil blieb reglos liegen.
In seiner Schockstarre nahm Niek das qualvolle Gekreische von Gina kaum wahr. Die Blonde taumelte nach hinten, stolperte über ihre eigenen Beine und fiel auf den Boden, nur um dort handlungsunfähig auf ihren abgetrennten Arm zu starren und zu schreien und zu schreien und zu schreien, bis ihre Stimmbänder versagten und nur noch ein heiseres Heulen aus ihrer Kehle drang.
Im gleichen Augenblick jaulte auch der Raptor hinter Niek laut auf. Bentes Knochenkeule traf das Tier in der Seite und ließ hörbar Knochen bersten. Mit eingeschlagenem Brustkorb wurde der Drache zu Boden geschleudert. Dort ruderte er noch einen Herzschlag unkoordiniert mit seinen Beinen und Armen in der Luft herum, während er schmerzverzerrte, rasselnde Schreie ausstieß. Dann versuchte er ein letztes Mal, durch seine zerquetschte Lunge Luft zu holen, der Sauerstoff blieb jedoch aus, sodass er verstummte und starb.
Sein Rudelmitglied, welches soeben noch mit Taros Drachen am Boden gerungen hatte, sprang daraufhin auf die Beine und fauchte die Aufständler wutentbrannt an. Niek konnte das Bedauern über den Verlust in den hellen Reptilienaugen des Tieres sehen. Ehe der Drache jedoch seine Chance nutzen und angreifen konnte, zischte ein Pfeil durch die Luft und bohrte sich direkt in das Auge des Raptors.
Zuerst glaubte Niek, dass weitere Piraten gekommen waren, um gegen sie zu kämpfen, dann erkannte er Sarina herbeieilen. Sie trug ihre graue Soldatenuniform, die sie in der eintönigen Umgebung Zodiacs beinahe unsichtbar erscheinen ließ.
„Ich hab' das im Griff!", rief sie Niek zu und eilte an Taros Seite, um gegen den nun einäugigen Drachen zu kämpfen.
Niek fragte nicht weiter nach und wandte sich daraufhin wieder zu Gina, die noch immer am Boden lag und eine Menge Blut verlor. So viel Blut. Niek wusste nicht, was er tun sollte. Wieder musste er an das Anwesen denken und daran, wie er seine spitzen Zähne in Menschenfleisch versenkt hatte. Er hatte Menschen verletzt, wie ein wildes Raubtier. Wie ein Drache.
„Gina", rief Anton, der im Gegensatz zu Niek endlich aus seiner Starre erwacht war.
Der Brünette warf sich förmlich neben Gina auf den Steinboden und drückte ihr den Armstumpf mit den Händen so gut wie möglich zu. „Niek, hilf mir!", rief er zu ihm herüber, doch Niek reagierte nicht. Anton löste daraufhin einen der Lederschnüre - die seine Schulterpanzer an Ort und Stelle fixierten - und schnürte Gina damit den Arm ab, indem er die Schnur mit Hilfe eines kleinen Zweigs festzwirbelte, da er mit seinen bloßen Händen kaum etwas ausrichten konnte. Er drehte so lange, bis die Schnur in Ginas Haut schnitt und die blonde Frau sich vor Schmerzen zu krümmen anfing. „Niek!", schrie Anton erneut.
Doch Niek blieb reglos und starrte auf das Blut und seine verletzte Kameradin am Boden. Er hatte Menschen getötet und Amalia war wegen ihm gestorben. Er hatte sie sterben sehen. Piet war auch gestorben, er hatte gesehen, wie er abgeschossen wurde. Und nun würde Gina das gleiche Schicksal ereilen.
„Hey, Niek", hörte er Anton noch einmal rufen und plötzlich stand der Ältere an seiner Seite und packte ihn an den Schultern. „Wo bist du denn?", fragte er, so als wären sie Welten voneinander entfernt.
Niek richtete in Zeitlupe seine Augen auf Anton, doch er blickte seinen Kameraden nicht an, sondern durch ihn hindurch, so als wäre er nur ein Geist. Eine Einbildung.
„Beruhig dich, du musst uns helfen", sagte Antons Stimme. „Ich brauch deine Hilfe", sprach er und tätschelte ihm mit seinen blutigen Fingern die Wange. „Gina wird es überleben, aber nur, wenn wir ihr helfen, also komm zurück."
Niek blinzelte einmal und sah nun direkt in die pechschwarzen Augen seines Gegenübers. Sein Gesicht war blass und der Stoppelbart schien in den letzten Tagen länger geworden zu sein. Skalli und er schienen wohl nicht die Einzigen zu sein, die gestresst waren. Anton war eine Person, die sich um seine Kameraden kümmerte. Karins Angriff und Kjells Verletzung schienen auch nicht spurlos an ihm vorbeigegangen zu sein. Trotzdem flippte er nun nicht aus und schaffte es, sich zusammenzureißen.
DU LIEST GERADE
Dragontale - Etappe III
FantasíaDer Traum vom Paradis ist dahin - so scheint es. Die Piraten haben Zodiac gestürmt. Die Aufständler wollen ihre Stadt verteidigen, doch ohne die Hilfe der Bewohner ist dies unmöglich. Diese weigern sich jedoch in den Kampf zu ziehen - sie wissen nic...