Deux

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Ich kannte seinen Geruch doch genau! Das konnte kein Nikotin sein. Ich atmete nochmal leise seinen Geruch ein. Doch. Definitiv Nikotin. Scheiße, Jules. Ich löste mich von ihm und sah ihn an, dieses Mal genauer. Seine Haut war gebräunt, er schien also oft draußen zu sein. Aber wieso zur Hölle sollte Julian rauchen? Ich löste die Hände von seinen Schultern und musterte ihn weiter. Seine Augen ruhten auf meinem Gesicht, jedem anderen wäre nichts aufgefallen, aber ich war seine Parabatai, mir konnte er nichts vormachen. Ich sah den Schatten, der über Jules' Augen huschte. Schuld. Also war es tatsächlich Nikotin. "Julian...warum?", wollte ich wissen, woraufhin Jules mich aus der Küche zog. "Was meinst du?" Ich wusste, dass er nicht wollte, dass Ty meine Standpauke mithörte, aber wenn es eine Standpauke von mir gab, konnte die ein Erdbeben von Stärke vier auslösen, also nicht, dass das irgendwas helfen würde. "Du weißt genau, was ich meine! Du hast mich doch die ganzen letzten Wochen nicht mal angesehen!" Er schluckte schuldbewusst und sah mich weiter an. "Ich... es tut mir leid, Em. Ich konnte jeden Tag merken, wie schlecht es dir geht, aber..." "Aber was?", knurrte ich ihn sauer an. "Ich konnte nicht mit dir reden, es ist..." Ich wusste, welches Wort er jetzt benutzen würde. "Sag jetzt nicht kompliziert.", knurrte ich wütend. "...schwer zu erklären.", sagte er schließlich, immerhin mit einem entschuldigendem Lächeln auf den Lippen. Nicht, dass ihn das vor mir retten konnte. "Jules, ich will doch nur wissen, was los ist!", sagte ich laut und frustriert. Er schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht." Ich starrte ihn an. "Wieso nicht? Weil ich deine beste Freundin bin und es sich ja nicht gehört, dass Leute ihre Geheimnisse den Leuten erzählen, denen sie vertrauen! Ist ja strafbar!", keifte ich ihn an und rüttelte an seinen Schultern. Er nahm meine eisigen Hände und drückte sie. "Emma, es tut mir echt leid, aber ich möchte es dir nicht erklären. Ich weiß, ich sollte es dir erklären, aber... Es hat was mit dir zu tun.", sagte er schließlich. Ich starrte ihn an. "Mit mir. Na klar!", knurrte ich und drehte ihm den Rücken zu. Der brauchte sich gar nicht zu wundern, wenn ich ihm sauer war. "Wegen mir fängst du an zu rauchen?!" Er starrte mich entsetzt an. "Was? Rauchen? Ich?!" Ich konnte es nicht fassen, jetzt log er mich auch noch an, mein Parabatai. Ich meinte... man musste vom eigenen besten Freund doch Ehrlichkeit erwarten können! Ich drehte mich zu ihm und starrte ihm in die hellen Augen. "Julian, ich bin doch nicht bescheuert!", rief ich aus und holte mit der Faust aus. Ich sah gerade noch, wie seine Augen sich erschrocken weiteten und er sich duckte. Ich wusste, dass er das tun würde, holte also zu einem Faustrücken aus. Leider wusste er jedoch auch, was ich tun würde, also packte er meinen Unterarm, seine große Hand schloss sich darum und er sah mich weiter an. "Emma, lass mich das erklären..." Ich konnte es nicht fassen, dass er so ruhig klingen konnte! Er hatte mich angelogen, ich spürte das tief in mir drin. Es fühlte sich an, als würden zwei Julians (ich wusste genau, wovon ich sprach, einer allein war ja schon schwer genug) mit hochhackigen Schuhen mein Herz zertrampeln und es dann mit ihren Händen auseinandernahmen und sich dabei stritten, welcher die linke und welches die rechte Herzkammer war. Ich riss meinen Arm von Julian los und rannte weg, bevor er die Tränen in meinen Augen sah. In der Annahme, er wüsste, wann man mich besser allein ließ, sank ich etwas weiter entfernt gegen eine Wand und schluchzte laut und frustriert. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass es sich so grausam anfühlen würde, von seinem Parabatai angelogen zu werden. Die Hände gegen meine Brust pressend, um den innneren Schmerz durch äußeren auszugleichen, versuchte ich wieder zu Atem zu kommen. Ich wollte doch nur meinen Geburtstag haben, ohne irgendwelche Neuigkeiten. Obwohl ich eigentlich zu Atem kommen wollte, wurde mein Plan ruiniert, als ich von Jules an seine Brust gezogen wurde. Natürlich wusste ich, dass es Jules war, ich kannte seine schönen starken Arme mit den hervortretenden Adern, die ich schon oft nachgezeichnet hatte, genau, ebenso seinen Geruch, nur ohne diese Nikotinnote. Obwohl er mir etwas wichtiges verschwieg, kuschelte ich mich eng an ihn, es würde uns beiden nur unötig wehtun, wenn ich ihn wegstoßen würde. Ich wusste einfach, dass es etwas wichtiges war, schließlich kannte ich ihn lange genug, um sein Verhalten zu erkennen. Er zeichnete sanft mit seinem Daumen Buchstaben auf meinen Rücken. Ich wusste jede Bewegung seiner Finger, schließlich hatte er das schon ziemlich oft gemacht. T-U-T-M-I-R-L-E-I-D, schrieb er und sah mich an. Ich wischte mir über die Wangen, in den letzten Tagen hatte ich zu oft geweint. Außerdem konnte ich dem Jungen mit dem lockigen schokoladenbraunen Haaren nicht lange böse sein. "Sagst du mir die Wahrheit?", wollte ich leise von ihm wissen. Er schüttelte den Kopf und lächelte leicht. "Ich kann sie dir malen, wenn du möchtest." Worte waren weder Jules' noch meine Welt. Wenn er etwas ausdrücken wollte, konnte er das am besten durch seine Bilder. Malerei war seine Leidenschaft, er malte einfach alles. Er malte nicht detailgetreu, nicht so, wie andere Schattenjäger die Dinge sahen. Er malte die Dinge, wie er sie sah oder sehen wollte. Wann immer ich ihn früher gebeten hatte, mich zu zeichnen, hatte er mir die Resultate nie gezeigt. Er hatte gesagt, dass ich die Bilder von mir nicht sehen wollte. Ich habe nie gefragt, warum. Es war seine Entscheidung, ob er mir die Bilder zeigen wollte. Ich hatte schon oft Bilder von Dru oder Mark gesehen. Einmal hatte er mir sogar eine Skizze von Helen und Aline gezeichnet, auf der der Hintergrund verschwommen war und nur schwach erkennbar war, Aline jedoch messerscharf gezeichnet war. Auf der Skizze hatte Aline die Arme fest um Jules' ältere Schwester Helen geschlungen und die Lippen auf ihre gepresst. Obwohl es nur eine Bleistiftskizze war, schien von Helen ein leichter Schimmer auszugehen. Ich wusste, wann er dieses Bild gesehen hatte. Als Helen von der Wrangel Island zurück nach Los Angeles gekommen war, hatte Aline sie beinahe zerquetscht. Jules hatte ein gewaltiges Empathievermögen, auch wenn er es nicht sehr oft zeigte. Das hätte ich spätestens gewusst, als Julian ein Bild von Mark gezeichnet hatte. Und es war nicht nur von Mark, es war aus der Sicht von Mark. Es zeigte, wie Mark auf einer Fensterbank saß und in ein Buch vertieft war. Mark lächelte abartig selten und wenn er es tat, tat er es ehrlich. Sein Gesicht strahlte dann und auf einmal wirkte er unglaublich jung und sanft, gar nicht wie ein Schattenjäger. Die einzige Person, die Jules nie gezeichnet hatte, war er selbst. "Em!", riss er mich aus meinen Gedanken. Sein Gesicht sagte mir, dass er mehr als nur einmal meinen Namen hatte rufen müssen. Ich sah zu ihm und merkte, dass er einen Zeichenblock in der Hand hielt, auf dem mein Name stand. Ich sah ihn an. "Ich hab einen Block bei dir zu liegen?" Er schüttelte leicht den Kopf und hielt mir den Block hin. "Nein. Das sind Zeichnungen. Schau einfach mal rein." Ich nickte langsam und nahm den Block an mich. Julian schien vorsichtig damit umzugehen. Ich schlug die erste Seite um. Sofort wusste ich, was dieses Bild zeigte. Ich war darauf zu sehen, hatte mich auf die Zehenspitzen gestellt und den Kopf in den Nacken gelegt, um zu dem jungen Mann hochzusehen, der neben mir stand. Ich realisierte erst beim zweiten Blick, dass es sich um Jace handelte. Dann zog ich die Augenbrauen zusammen. Irgendwas war merkwürdig. Das Bild war schwarz-weiß, mit Bleistift gezeichnet, aber ich war in Farbe. Und ich sah gar nicht aus, wie ich mich mit zwölf wahrgenommen hatte. Ich bezeichnete meine Haarfarbe als straßenköterblond, aber Jules hatte meine Haare in einem satten Goldton gemalt. Meine Augen strahlten und jeder Blinde hätte die Ehrfurcht in ihnen erkannt. Ich sah auf zu Jules, welcher betreten den Kopf gesenkt hatte. "Jules..." Er schüttelte den Kopf und unterbrach mich: "Blätter weiter." Irgendwann stieß ich auf ein Bild, dass mich zeigte, während ich mit Jem Geige übte. Jem war ein Verwandter von mir, über ziemlich viele Ecken. Er war sowas wie mein Vaterersatz und mit ihm lernte ich Geige spielen. Jules konnte mich dabei nie gesehen haben, aber sein Gehör reichte offenbar aus, um sich uns vorzustellen. Dieses Mal war es eine komplette Farbzeichnung, aber dennoch sah man zuerst mich. Ich hatte die Geige auf der Schulter, das Gesicht auf den Korpus gelehnt. Dann fiel mein Blick auf Jem. Er sah mich an, hatte jedoch etwas eigenartiges in den Augen, eine Art widerwilliger Respekt. So würde Jem mich nicht ansehen. Es dauerte noch einige Bilder, bis ich bemerkte, was das sollte. Jules sah mich als den Mittelpunkt der Welt, alles andere schien für ihn zu verblassen. Aber warum hatte er mir die Bilder erst jetzt gezeigt? Ich stutzte erneut und sah auf eine Stelle in dem Bild. Ein J und ein B. Seine Initialien. Aber Jules signierte seine Bilder nie. Warum signierte er gerade Bilder von mir?

Parabatai? Parabatai.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt