𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙽𝚎𝚞𝚗𝚞𝚗𝚍𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐

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Fünf Wochen vor dem Unfall:

Noch nie in meinem Leben verspürte ich solche Angst, wie in diesem Moment. Ich hatte die Entscheidung, mit Julian zu sprechen, als erstes getroffen und würde nicht davor zurückschrecken.

Dennoch brachte mich alles im Augenblick um einen klaren Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte, ihm irgendetwas zu erklären. Denn so viel stand fest:

Vor drei Wochen ist etwas gewaltig schiefgelaufen und Julian war nun meine erste Anlaufstelle.
Niemand wusste davon.
Niemand sollte es erfahren.

Gegenwart:

Wie ich in Julians Schrebergarten gelandet bin, weiß ich nicht. Einzig und allein ist mir wichtig, dass niemand hier zuerst nach mir suchen wird, und das ist mein einziges Ziel.

Ich muss mir über einige Dinge klarwerden und ich bin mir sicher, dass das etwas Zeit in Anspruch nehmen wird.

Was ich brauche ist ein Weg, um all den Lügen zu entkommen. Mir erscheint weglaufen noch etwas zu dramatisch, weshalb mich zu verstecken mir gerade das Beste erscheint.

Ob ich mir vorstellen kann, was sich zu Hause abspielt? O ja. Und das haben sie verdient. Gewaltig. Vielleicht nicht Simon. Er war immer derjenige, der wenigstens versuchte, mich auf den richtigen Weg zu führen. Aber verdammt nochmal, selbst er lügt mir ins Gesicht.

Zwischen Verschweigen und Lügen sehe ich schon keinen Unterschied mehr. Am liebsten würde ich gerade jede Hütte hier einzeln abfackeln. Andererseits ist es mir auch lieb, in den Tränen zu ertrinken.

Fast schon bin ich von mir selbst fasziniert, wie viel salziges Wasser meine Augen verlieren können. Manchmal muss man eben weinen, um das wegzuspülen, was man gesehen hat.

Bei mir wäre dann eher der Fall, was ich nicht gesehen habe. Denn ich weiß gar nichts. Und das wird mir immer wieder vor den Kopf geworfen. Trauer umgibt mich. Alles scheint sich nur noch in Zeitlupe abzuspielen.

Vermutlich fragt meine Mutter gerade aufgewühlt in der ganzen Nachbarschaft herum. Als nächstes wird sie Blake und Jo anrufen. Beide werden keine Ahnung haben, wo ich bin. Jedoch kann ich mir vorstellen, dass sie sich meiner aufgebrachten Familie anschließen werden und, wie ich meine Mutter kenne, die ganze Stadt nach mir absuchen.

Aber niemand wird auf die Idee kommen, Julian anzurufen. Mein Vater bricht sich lieber beide Beine, als zuzugeben, dass ich bei ihm sein könnte. Aber nicht mal er wüsste, wo ich bin.
Denn ich bin ganz allein.
Ich bin es immer gewesen.

Mir ist egal, wie sehr sie sich sorgen werden. Was sie mir antun ist schlimmer. Die ganze Zeit machen sie nichts anderes, als mir mein Leben vorzuenthalten. Mir rammt Karma gerade die Scherben und Splitter von meinem Herzen direkt in die Seele.

***

In meiner Tasche vibriert mein Handy und ich schrecke kurz zusammen, weil das helle Licht des Displays durch den Stoff hindurch leuchtet. Mit zittrigen Fingern greife ich nach dem teuren Gerät, welches mir anzeigt, dass mich meine Mutter anruft. Auf dem Sperrbildschirm sind zusätzlich noch einige besorgte Nachrichten verfasst.

Ich warte, bis das Klingeln aufhört und scrolle die Nachrichten durch. Sie enthalten alle die Frage, wo ich bloß stecke und was in mich gefahren sei.

Eine nach der anderen lösche ich, bis ich kurzerhand von Dad angerufen werde. Seinen Anruf blocke ich sofort ab, was sicherlich noch mehr Ungewissheit hervorruft.

Jo hat mir auch geschrieben. Lange überlege ich, ihr zu antworten, entscheide mich schließlich dagegen. Vermutlich sitzen sie alle in einem Kreis zusammen und warten darauf, dass ich in die Beste-Freundinnen-Falle tappe. Im Moment traue ich ihnen alles zu.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt