Kapitel 6

95 4 1
                                    

AMALIA

Ich hatte versucht, die ganze Aufregung von gestern als bösen Traum abzustempeln und nachdem wir uns mit Tanzen abgelenkt hatten, hatte das sogar einigermaßen gut geklappt. Ich hatte zwar sehr unruhig und schlecht geschlafen, aber als am nächsten Morgen alles so normal wie immer verlief, fiel es mir sogar noch leichter, das gestern als bösen Traum abzustempeln. Beim Frühstück alberten die Kinder mit Carlas Gabe herum. Isabela, Dolores und Luisa dachten nacheinander an verschiedene Sachen, die Carla dann erraten musste und natürlicherweise lag sie jedes Mal genau richtig. Die Kinder waren wirklich aufgeregt und lachten so laut, dass ich unwillkürlich lächeln musste. So sah ich meine Tochter und meine Nichten am liebsten - lachend und glücklich. Carla schien also wirklich schon wieder vergessen zu haben, was gestern Abend passiert war. Ich sah Bruno an und lächelte.
"Sieht so aus, als würde alles gut gehen", sagte ich, er lächelte mich an und gab mir einen Kuss auf die Wange.
"Natürlich, das hatte ich dir doch gesagt, mi vida", erwiderte er und lächelte mich an.
"Ja, du hattest total recht", stimmte ich ihm zu. "Hast du heute eigentlich schon etwas vor? Ich muss Julieta auf dem Markt mit ihrem Stand helfen."
"Ich dachte, ich könnte mit Carla anfangen ihr neues Kleid zu nähen oder sie könnte mir Rhythmusgefühl beibringen", antwortete er und grinste mich an. "Es soll ja Menschen im Dorf geben, die der Meinung sind, dass ich keinen Rhythmus habe!" Ich lachte.
"Dann solltest du diesen Menschen das Gegenteil beweisen, Brunito", konterte ich. "So, wie du dem ganzen Dorf bewiesen hast, dass du kein Pech bringst und nichts für deine Visionen kannst."
"Das werde ich, keine Sorge. Ich hab ja eine gute Lehrerin", meinte er und sah Carla an. "Carlita, hast du später Lust mit mir dein Kleid zu machen und mir dann tanzen beizubringen?" Carla sah ihn an und lächelte.
"Na klar, Papá!", stimmte sie begeistert zu.
"Wir wollen aber auch so ein Kleid haben!", beschwerte Isabela sich sofort.
"Ich hatte euch doch gesagt, dass ihr welche bekommt, wenn ihr eure Gaben habt!", wandte Bruno ein. "Jetzt ist erstmal Carla dran und in ein paar Monaten dann ihr, in Ordnung, Isa?"
"Na gut", willigte sie ein.
"Spielen wir später dann noch Prinzessin, Carla?", bat Dolores. "Wir haben unsere Burg noch gar nicht fertig gebaut!"
"Dabei kann ich euch später helfen, wenn Carla und ich fertig sind, ja?", schlug Bruno vor, die Mädchen nickten.
"Danke, tío!"
"Kein Problem."
"Es sieht ganz so aus, als hätte heute jeder einen vollen Tag", meinte Alma und lächelte. "Dann lasst uns mal frühstücken und uns für den Tag stärken. Auf die Familie Madrigal!"
"Auf die Familie Madrigal!"
Nach dem Frühstück ging ich mit Julieta und Pepa in die Küche, um beim Abwasch zu helfen und schon einmal einige Arepas zuzubereiten. Alle anderen kümmerten sich entweder um die Kinder oder um eigene Pflichten im Dorf, also hatten wir so ziemlich unsere Ruhe.
"Carlas Zeremonie lief wirklich gut gestern", sagte Julieta und lächelte mich an. "Und sie hat eine tolle Gabe bekommen!"
"Ja, und so wie es aussieht, kann sie damit schon wirklich gut umgehen", stimmte Pepa ihrer Schwester zu. "Es wird nur etwas komisch sein, dass sie jeden unserer Gedanken hören wird! Oh nein, was ist, wenn ich etwas schlechtes denke und sie das mitbekommt und es allen erzählt und..." Pepa regte sich immer weiter auf, bis ein heftiger Wind aufkam, aber Julieta strich ihr sofort beruhigend über die Schultern und auch ich nahm sie vorsichtig in den Arm.
"Pepa, beruhige dich bitte! Es wird auch für uns neu sein, sich daran zu gewöhnen, aber Carla wird nichts davon ausplaudern, da bin ich mir sicher! Außerdem leuchten ihre Augen grün, wenn sie Gedanken liest, also kannst du es auch ganz einfach sehen! Das wird schon", beruhigte ich sie, worauf der Wind langsam abklang und Pepa sich über ihren Zopf strich. Ich lächelte sie an. "Besser?"
"Ja, danke. Ich überdenke manchmal zu viel", erwiderte sie verlegen und lächelte uns unsicher an, bevor wir uns wieder dem Abwasch zuwandten.
"Sag mal, wo waren Bruno und du gestern Abend eigentlich? Ihr wart kurz weg, Carla hat nach euch gesucht", fragte Julieta neugierig nach, worauf ich innehielt. Ich hatte diesen Vorfall so schnell es ging vergessen wollen, aber jetzt, wo Julieta es ansprach, machte es mich mehr runter als ich gehofft hatte. Ich wollte den anderen nichts sagen, aber wie lange würde es wohl dauern, bis sie es herausfanden? Trotzdem sollten sie nichts davon erfahren, sonst würde hier bloß Panik ausbrechen - erst recht mit Pepas Gabe. Und einen Sturm konnten wir gerade wirklich nicht gebrauchen!
"Ach, wir waren nur kurz draußen, um frische Luft zu schnappen", wich ich aus und zuckte die Schultern. "Bei den vielen Menschen war die Luft so stickig." Julieta musterte mich durchdringlich.
"Sicher?", fragte sie nach, ich nickte.
"Natürlich", antwortete ich schnell. "Da war nichts, ehrlich. Also, was brauchst du für deine Arepas? Ich könnte schon mal alle Zutaten holen." Julieta warf ihrer Schwester einen kurzen Blick zu, doch zuckte dann die Schultern.
"Na gut, wie du meinst", murmelte sie. Ich nickte nur knapp. Ich wollte die anderen nicht beunruhigen, sie würden sonst nur Panik bekommen. Bruno und mir machte das ja schon genug Angst, da sollten die anderen besser gar nichts davon wissen. Und solange wir Carla irgendwie beschäftigen konnten und sie nichts mitbekam, war auch alles in Ordnung. Esteban war ja schießlich nicht dumm, er würde es schon merken, wenn er nicht an Carla rankam. Mit etwas Glück gab er sogar auf und war vielleicht schon wieder zurück nach Hause gegangen. Wusste Mamá eigentlich, dass er hier war? Ich musste sie dringend fragen. Wenn wir später sowieso im Dorf waren, dann konnte ich sie ja kurz besuchen gehen und unauffällig nachhaken. Wenn sie etwas darüber wusste, dann würde sie es mir definitiv sagen. Meine Mutter würde mir nie etwas verschweigen, das mit meinem Vater zu tun hatte. Solche wichtigen Sachen würde sie mir sagen. Aber dann hätte sie es mir bestimmt auch schon gestern gesagt, oder? Oder hatte sie ihn gestern nur noch gar nicht gesehen? Eigentlich war es ganz egal, aber ich musste sie später fragen und mich darum kümmern, dass Esteban wieder verschwand. Er durfte Carla nicht sehen, das ging einfach nicht! Er würde ihr nur wehtun und das konnte ich nicht zulassen! Nur wie wollte ich ihn aufhalten? Das war mir damals schon kaum gelungen und wenn Bruno nicht gewesen wäre, dann hätte ich es nie geschafft! Das schien aber doch nur zu beweisen, dass wir alles zusammen schaffen konnten, wenn wir zusammenhielten. Oder?

Ich brauche dich, Bruno 2 - Die Macht der FamilieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt