BRUNO
Wir hatten uns gerade in Carlas neuem Zimmer umgesehen, als Lia urplötzlich verschwunden war. Ich hatte es erst auf Carlas Zimmer geschoben, das aus vielen in der Luft schwebenden Ebenen und vielen kleinen Ecken und Winkeln bestand, in denen man sich prima verstecken konnte. Dieses Zimmer war genauso verwinkelt wie ein Gehirn und so durcheinander, wie Gedanken es häufig auch waren. Es passte zu ihrer Gabe. Doch als ich bemerkte, dass Lia nicht mehr da war, hatte ich mich durch die Menge aus dem Zimmer geschoben, um nach ihr zu sehen. Sie war nicht bei Carla, denn die stand bei ihren Cousinen, um ihnen ihre neue Kette zu zeigen. Wo war sie hin? Ich ging zum Geländer der Galerie, um nach unten zu sehen und sah gerade noch, wie Lia nach draußen verschwand. Wo wollte sie hin? Ich eilte die Treppe hinunter und folgte ihr hinaus in die kühle Nacht. Ich hörte sie aufgeregt - ja, beinahe schon aufgebracht - mit jemandem reden, also folgte ich dem Klang ihrer Stimme um das Haus herum. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich sie mit niemand anderem als mit Esteban streiten sah. Was machte er hier? Wir hatten Lias Vater eigentlich dem Dorf verwiesen und er hatte nie mehr zurückkommen sollen! Wieso war er hier? Hatte er etwa irgendwie von Carla und ihrer Zeremonie erfahren? Aber wie nur? Es hatte doch eigentlich keiner mehr Kontakt zu ihm! Ich ging zu Lia und nahm ihre Hand, womit ich den Streit der beiden unterbrach.
"Was machst du hier, Esteban?", fragte ich forsch und drückte Lia beschützend an mich. Sie sah unverletzt aus, aber bei Esteban musste man immer auf alles gefasst sein.
"Ich will meine Enkelin an ihrem besonderen Tag unterstützen! Sie ist auch ein Teil meiner Familie, ihr könnt sie mir nicht ewig vorenthalten!", antwortete Esteban aufgebracht.
"Du hast keine Familie mehr! Verschwinde von hier, sofort! Du wirst Carla nicht kennen lernen, das kannst du vergessen! Du wirst ihr Leben nicht genauso zerstören wie meins oder das von Mamá!", widersprach Lia ihm forsch, worauf ich ihre Hand drückte.
"Du kleine Göre hast mir gar nichts zu sagen!", fuhr Esteban sie wütend an.
"Aber ich und jetzt verschwinde von hier! Du dürftest nicht mal hier sein!", konterte ich und war selbst überrascht davon, wie sicher das über meine Lippen kam, obwohl ich eine genauso große Angst vor Esteban wie Lia hatte. Dieser Mann war zu allem fähig, es würde mich kaum wundern, wenn er uns hier draußen bewusstlos schlug und Carla einfach mitnahm!
"Ich kann sein, wo ich will!", fuhr Esteban mich an.
"Nein, kannst du nicht! Nicht hier in Encanto! Du bist hier nicht mehr willkommen!", widersprach ich ihm.
"Das ist aber keine sehr nette Art, Besuchern zu begegnen, Señor Madrigal", wandte er spöttisch ein, aber so einfach ließ ich mich nicht unterkriegen - zumindest nicht mehr.
"Du bist aber kein Besucher, sondern ein Eindringling. Also geh nach Hause. Wir lassen dich sowieso nicht zu Carla, es gibt hier nichts für dich zu erreichen!", konterte ich und bevor er etwas erwidern konnte, zog ich Lia zurück zur Tür.
"Ihr könnt Carla nicht ewig vor mir verstecken! Ich werde sie sehen, dagegen könnt ihr absolut nichts tun!", schrie Esteban uns wütend nach, aber wir antworteten nicht darauf. Stattdessen schob ich Lia ins Haus und strich ihr beruhigend über den Rücken.
"Mach dir keine Sorgen, mi vida, er hat absolut unrecht. Er wird nicht an Carla rankommen, dafür sorge ich schon", beruhigte ich sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie sah mich beinahe schon ängstlich an.
"Tu aber nichts Unüberlegtes, hörst du? Ich will nicht, dass er dir wehtut", bat sie und drückte meine Hand, worauf ich sie beruhigend anlächelte.
"Natürlich, amor, ich passe auf. Auf Carla und auf dich und auf die ganze Familie", stimmte ich zu und drückte sie an mich. "Ich liebe dich, mi amor."
"Ich dich auch, mi vida." Sie atmete erleichtert aus und löste sich dann langsam von mir, um mich anzusehen. "Wollen wir dann wieder hoch zur Feier gehen, bevor Carla misstrauisch wird, weil wir so lange weg waren?"
"Ja, das ist eine gute Idee", stimmte ich zu, also gingen wir zurück in Carlas Zimmer, wo alle anderen bereits am Feiern und Tanzen waren. Niemand schien unsere Abwesenheit bemerkt zu haben, aber das war auch nur besser so. Wenn wir niemanden beunruhigen wollten (und das wollten wir definitiv nicht), dann war es nur besser, wenn keiner erfuhr, was gerade draußen passiert war. Erst recht nicht Carla! Wir gesellten zum Rest der Familie, als die Kinder zu uns kamen.
"Mamá, was ist los? Ich hab dich gehört, du klangst besorgt! Wer ist hier, der nicht hier sein darf?", fragte Carla besorgt nach, worauf ich Lia ansah. Na toll, sie hatte bereits mitbekommen, dass etwas nicht stimmte! Wir mussten uns wohl noch daran gewöhnen, dass Carla ab sofort jeden unserer Gedanken mitbekommen würde.
"Niemand, mi hija, es ist alles gut", antwortete Lia ihr und lächelte sie liebevoll an. "Das muss jemand anderes gewesen sein."
"Nein, ich hab DICH gehört!", widersprach Carla ihr stur.
"Das kann nicht sein, amor. Aber weißt du was? Hier drin ist es so laut, da kann das schon mal passieren, das ist ganz normal. Und du musst deine Gabe ja auch erst mal richtig kennen lernen", wandte Lia ein und sah sie an. "Hast du vielleicht Lust, mit uns ein bisschen zu tanzen?"
"Ja, das können wir machen", stimmte Carla zu, wirkte aber noch nicht ganz zufrieden mit Lias Antworten. Ihre Augen leuchteten grün auf, als sie offensichtlich versuchte, unsere Gedanken zu lesen, aber ich dachte einfach an nichts, bis das Leuchten ihrer Augen wieder verschwand. So war es für sie am besten, sie sollte nicht wissen, dass Esteban hier gewesen und nach ihr gesucht hatte. Er würde ihr nur wehtun und das konnte ich nicht zulassen. Also nahmen wir Carla an die Hand und zogen sie in die tanzende Menge, um sie und vor allem auch uns etwas abzulenken. Das würde uns allen guttun. Carla hielt sich an unseren Händen fest und bemühte sich darum, die Schrittfolgen einzuhalten, die Lia und ich ihr zeigten. Sie bekam das für ihr erstes Mal sogar wirklich gut hin, das musste ich ihr lassen. Vielleicht war sie ja die geborene Tänzerin. Sie sah mich an und lächelte. "Ich kann das fast so gut wie du, Papá!" Ich lachte.
"Ja, das stimmt, amor. Und wenn du so weiter übst, bist du wenigen Tagen sogar besser als ich! Dann traue ich mich gar nicht mehr zu tanzen, wenn du dabei bist! Da kann ich mich ja bloß noch blamieren!", erwiderte ich grinsend, worauf sie mich angrinste und lachte.
"Nein, du kannst dann mit mir tanzen und ich zeige dir, wie es geht!", bot sie an. "Und dann kannst du wieder mit Mamá tanzen und es ihr auch beibringen!"
"Das ist eine tolle Idee, Carlita. Bring deinem Papá ruhig mal bei, wie man im Rhythmus bleibt", stimmte Lia ihr lächelnd zu.
"Hey, ich bin immer im Rhythmus!", beschwerte ich mich grinsend, worauf Lia lachte.
"Den Rhythmus, der zu deinen Schritten passt, will ich sehen! Da schlägt doch jeder Musiker die Hände über dem Kopf zusammen, Brunito!", neckte sie mich und sah Carla an. "Du bringst das deinem Papá besser mal bei, Carlita."
"Das mach ich, Mamá!", stimmte Carla begeistert zu und grinste. Es war schön, sie so lächeln zu sehen. Und mit etwas Glück, hatte sie unser seltsames Verhalten von heute Abend bis morgen früh schon wieder vergessen!
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Ich brauche dich, Bruno 2 - Die Macht der Familie
Fiksi PenggemarEinige Jahre nachdem Amalia und Bruno geheiratet haben, steht die Gabenzeremonie ihrer Tochter Carla an. Was als schönster Tag seit langem für die Familie und das Dorf geplant war, schlägt schnell in ein Desaster um, als ein alter Bekannter unvorher...