Kapitel 16

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CARLA

Ich wachte auf, sobald etwas Licht durch das kleine Fenster schien. Abuelo schlief noch neben mir, als ich aus dem Bett kletterte und zum Fenster ging, um rauszusehen. Die Sonne ging gerade auf und tauchte die Häuser um uns herum in ein schönes, goldenes Licht. Jetzt musste die Blume bestimmt leuchten! Wir mussten sie suchen! Ich hüpfte zurück auf das Bett und schüttelte Abuelo, damit er aufwachte.
"Abuelo, wach auf! Die Sonne geht auf, wir müssen die Blume suchen! Und dann können wir zurück nach Hause und Mamá helfen!", rief ich aufgeregt, worauf er die Augen öffnete und mich am Handgelenk festhielt. Ich hielt verwirrt inne.
"Carla, es ist früh am Morgen! Leg dich wieder hin und schlaf! Und merk dir, dass man keine Erwachsenen weckt!", fuhr er mich genervt an und ließ mich los. Was sollte das denn? Das hatten Mamá und Papá noch nie gemacht oder gesagt! Im Gegenteil, sie hatten mir gesagt, dass ich sie jederzeit wecken durfte.
"Aber... die Blume...", begann ich wieder, doch Abuelo sah mich streng an.
"Du sollst dich hinlegen, Carla! Die Blume können wir auch noch suchen, wenn ich in ein paar Stunden wach bin!", unterbrach er mich gereizt und drehte sich um, um weiterzuschlafen.
"Aber du hast gesagt, dass man sie nur finden kann, wenn sie leuchtet und das tut sie nur morgens! Wir müssen...", versuchte ich es wieder, aber er schubste mich zurück, sodass ich auf die weiche Matratze fiel.
"Carla, Schluss jetzt! Wenn ich sage, dass ich schlafen will, dann hast du ruhig zu sein und nicht zu nerven! Also geh dich alleine und leise beschäftigen oder leg dich wieder hin!", schrie er mich wütend an, worauf ich traurig vom Bett rutschte und aus dem Zimmer ging. Ich wusste nicht, was ich hier tun sollte. Ich konnte nicht rausgehen, denn ich kannte mich nicht aus, aber ich hatte auch niemanden zum Spielen. Nicht einmal Amigo hatte ich! Was sollte ich jetzt machen, bis Abuelo endlich aufstand? Wir mussten doch die Blume suchen, um Mamá zu helfen! Ich seufzte leise und setzte mich auf den Sessel am Fenster, um rauszusehen. Einige Leute waren schon auf den Straßen und liefen geschäftig umher, während ich so viele Stimmen hörte, dass mir beinahe schwindelig wurde. Zum Glück waren sie nur leise und als ich mich vom Fenster wegdrehte, wurden die Stimmen noch leiser und ich konnte sie ohne Probleme ignorieren. Ich wandte mich dem Stapel Bücher zu und sah sie mir an, in der Hoffnung, eines mit Bildern zu finden. Ganz unten fand ich ein altes Fotobuch, das ich mir ansah. Darin waren Bilder von Mamá, Abuela und Abuelo und noch zwei weitere alte Menschen. Vielleicht Abuelos Eltern? Ich wusste es nicht, ich kannte die beiden nicht. Neugierig blätterte ich die alten Seiten um und sah mir die Bilder an. Mamá hatte als Kind genauso ausgesehen wie ich, nur, dass sie braune Haare hatte. Es gab viele Bilder von ihr am Brunnen in Encanto, an dem Papá auch von mir jedes Jahr ein Foto machte, um meine Veränderungen im Laufe der Zeit zu dokumentieren. Ich mochte dieses Ritual und jetzt wusste ich, woher es kam. Von Mamá. Mir gefielen ihre Bilder. Sie wurde von Jahr zu Jahr hübscher. Mamá war wirklich unglaublich hübsch und wünschte mir nichts mehr, als irgendwann so hübsch zu sein wie sie. Sobald ich zuhause war, musste ich mit Papá dringend mein Kleid weiternähen und Mamá musste mir die Haare machen! Spätestens zu Isabelas oder Dolores' Gabenzeremonie wollte ich so hübsch sein wie Mamá! Ich schloss das Fotobuch, als ich mir alle Bilder angesehen hatte und legte es wieder zur Seite, bevor ich vom Sessel kletterte. Was konnte ich jetzt machen? Ich ging in die Küche und wollte mir etwas zu trinken machen, aber ich kam nicht an den Schrank mit den Gläsern, also zog ich mir den Sessel heran und kletterte auf die Theke. Jetzt konnte ich den Schrank öffnen und mir ein Glas herausnehmen. Ich nahm mir eines der großen Gläser heraus, bevor ich von der Theke klettern wollte, aber dabei rutschte ich auf einer kleinen Pfütze aus. Ich fiel ungeschickt auf den Boden, wobei ich mir den Fuß umknickte und das Glas auf dem Boden in tausend Scherben zersprang. Ich begann zu weinen und wollte aufstehen, trat dabei aber in die Scherben und schrie auf. Unsicher darüber, wie ich aus der Küche kommen sollte, blieb ich weinend sitzen und versuchte die Schmerzen in meinem Fuß zu ignorieren. Ich konnte ihn nicht mal mehr bewegen und musste aufgrund der Schmerzen noch mehr weinen. Nach einign Minuten kam Abuelo wütend aus dem Schlafzimmer gestürmt.
"Ich hatte dir doch gesagt, dass du still sein sollst!", schrie er mich wütend an, worauf ich zu ihm aufsah.
"Ich wollte dich schlafen lassen und mir ein Glas Wasser holen, aber ich bin hingefallen. Ich kann meinen Fuß nicht mehr bewegen", entschuldigte ich mich schluchzend und wischte mir die Tränen aus den Augen. Abuelo stöhnte genervt, bevor er um die Scherben herumging, mich hochhob und auf den Sessel am Fenster setzte.
"Ich mache dir jetzt ein Pflaster auf den Fuß und mache dir einen Kräuterverband drum, ja? Und danach machst du die Küche sauber, hörst du? So etwas müssen Mädchen machen", befahl er.
"Aber... ich kann nicht auftreten!", wandte ich ein, worauf er mich streng ansah.
"Carla, man widerspricht Erwachsenen nicht! Du machst sauber und Ende der Diskussion!", sagte er stur und ging ins Bad. "Kinder! Sie ist genauso stur wie Amalia!" Ich blieb auf dem Sessel sitzen, wischte mir die letzten Tränen aus dem Gesicht und wartete darauf, dass Abuelo wiederkam. Wieso war er plötzlich so gemein zu mir? Wieso half er mir nicht? Und wieso wollte er die Blume für Mamá plötzlich nicht mehr suchen? Wir mussten ihr doch helfen! Abuelo kam wenig später zurück. Er wischte mir das Blut mir einem kleinen nassen Lappen ab und klebte mir ein Pflaster über die kleine Schnittwunde, bevor er mir einen Verband um meinen pulsierenden Fuß machte, der mittlerweile etwas angeschwollen war. Der Verband roch angenehm nach Kräutern, genau wie die von tía Julieta. Aber diese hier heilten nicht sofort. Sobald mein Fuß verbunden war, stand Abuelo auf und drückte mir einen Besen in die Hand. "Und jetzt mach die Scherben sauber! Und tritt nicht noch mal in eine rein!" Damit ging er zurück ins Schlafzimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss, worauf ich schwerfällig in die Küche humpelte, um die Scherben zusammenzufegen. Wieso half Abuelo mir nicht? Gestern war er doch so nett gewesen! Wieso war er heute nur so schlecht drauf?

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Sooo.... ich würde euch einmal um ein kleines Feedback bitten. Wie findet ihr Esteban in dieser Geschichte und ist Carla euch zu naiv? (bedenkt, sie ist erst fünf!) Über ein kleines Feedback oder ein paar (Verbesserungs-)vorschläge würde ich mich sehr freuen :)

Ich brauche dich, Bruno 2 - Die Macht der FamilieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt