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Gleichzeitig mit dem Krankenwagen kamen auf seine Freunde zusammen mit einem anderen Lehrer hier an, welcher durch die Schüler informiert wurde. Sie alle brachen in Tränen aus. Und der Schuldgefühlklumpen in meiner Brust wird immer größer. Ich hätte das alles verhindern können, wäre ich nicht so ein Feigling. Mit meiner Hilfe wäre das alles nicht passiert, er wäre nicht vergewaltigt worden und hätte sich nicht das Leben genommen.

Nachdem einer der Sanitäter zum Lehrer gewandt den Kopf schüttelt, nehmen sie Hoseok mit. Einer seiner Freunde, wenn ich mich richtig erinnere heißt er Jungkook, beginnt zu schreien und wird von Jin und Taehyung in den Arm genommen, sie sind aus meiner Klasse. Und ich entferne mich unauffällig vom Geschehen. Ich halte das nicht mehr aus. Die Schuldgefühle übermannen mich.

Fast schon apathisch laufe ich zurück zu dem anderen leeren Klassenraum, selbstverständlich in den, in dem niemandes Leben beendet wurde. Hektisch schaue ich mich darin um, auf der Suche nach irgendwas mit dem ich meinem eigenen Leben ein Ende setzen kann. Vom Dach springen kann ich nicht, dort sind mit Sicherheit Menschen die irgendwie überprüfen, wie der Vorfall zustande kam. Es kann theoretisch ja genauso gut möglich sein, dass ihn jemand gestoßen hat. Auch wenn ich mir sicher sein kann, dass das nicht der Fall ist. Deswegen bleibt mir nur das hier.

Tabletten habe ich nicht dabei und das würde ohnehin zu lange dauern, ebenso wie Pulsadern aufschneiden. Und den Anblick will ich Namjoon ersparen, er kann soweit ich weiß nicht so gut Blut sehen. Irgendwo runter zu springen ist wie schon gesagt ebenfalls schwierig, daher bleibt mir nicht sonderlich viel. Und erst nach wenigen Minuten sehe ich die Lösung. Ein Haken an der Decke, an dem normalerweise Deko hängt, aber er wird, vermutlich wie die Haken in den anderen Klassen, auch für Physikexperimente verwendet. Also hält der das Gewicht eines Menschen aus und das werde ich mir jetzt zu Nutzen machen.

Die Tür hinter mir geschlossen nehme ich ein Seil aus der Spielzeugkiste für die Fünft- und Sechstklässler und stelle einen Stuhl direkt unter den Haken. Dann befestige ich das Seil am Haken und mache mir eine Schlinge, die sich bei Druck zu zieht. Diese hänge ich mir um den Hals und lasse mich langsam hängen, die Füße immer noch auf dem Stuhl.

Ein merkwürdiges Gefühl. Dieser Druck am Hals und das Gefühl zu ersticken sollten mir ja eigentlich Angst machen, aber es fühlt sich befreiend an. Endlich bekomme ich das, was ich verdiene. So lässt sich dieses Gefühl beschreiben. Ich habe nur durch meine Feigheit einem Menschen das Leben gekostet, daher verdiene ich das Meinige ebenso wenig. Außerdem kann ich mit meinen Erinnerungen an den Vorfall langsam wirklich nicht mehr leben, die Alpträume, die ewigen Panikanfälle, die ganzen Narben an meinen Körper. Ich habe mein Leben damit ruiniert, ohne es zu merken. Und außerdem meinte er ja, dass das nicht das letzte Mal war. Lieber sterbe ich jetzt, als das noch einmal erleben zu müssen. Auch wenn es mir leidtut für Namjoon, aber ich kann einfach nicht mehr.

Langsam lasse ich mein eines Bein neben dem Stuhl in der Luft hängen und mir wird die Luft ein wenig mehr abgeschnürt. Tränen laufen mir über die Wangen und ich kann gar nicht mehr differenzieren aus welchen Gründen. Einerseits sind es die Schuldgefühle, Hoseok und auch seinen Freunden nicht geholfen zu haben, ebenso wie jetzt Namjoon und meine Familie zu verletzen. Wie Jimin sich wohl fühlen wird, es muss merkwürdig zu sein auf einmal Einzelkind zu sein. Andererseits ist es aber auch eine unglaubliche Erleichterung, es endlich zu beenden. Dann kann ich mich bei Hoseok entschuldigen, vielleicht versteht er mich immerhin ein kleines bisschen, denn ich habe ja das selbe durchmachen müssen.

Und genau, als ich mit dem anderen Bein den Stuhl umwerfe und endgültig stranguliert werde, öffnet jemand die Tür. Zuerst erkenne ich ihn nicht durch das Meer aus Tränen, doch ich erkenne ihn binnen einem Bruchteil einer Sekunde an seiner Stimme.

"YOONGI!"

Ich kann ihn nicht allein lassen. Zappelnd versuche ich mich mit den Armen irgendwie oben am Seil festzuhalten, ein wenig hilft es auch aber sonderlich viel Luft bekomme ich trotzdem nicht.

"Halt still, ich schneide es durch." Namjoon kommt panisch auf mich zu gerannt, stellt den Stuhl wieder neben mich und versucht mit seinem Taschenmesser das Seil durchzuschneiden. Das waren vermutlich die längsten zehn Sekunden meines Lebens und letztendlich falle ich, die Schlinge immer noch um den Hals, auf den Boden. Namjoon hockt sich neben mich um mich von der Schlinge zu befreien, woraufhin er mich bis zu einem der leicht staubigen Stühle stützt.

Und endlich komme ich wieder zu Atem. Einige Male atme ich tief durch und reibe mir leicht über den Hals, an meinen Händen bleiben leichte Blutspuren zurück. Man wird es sehen, wie soll ich das nur erklären?

"Es tut mir so Leid Namjoon." Ich hätte gedacht, dass er wütend werden könnte, aber er blickt mich nur mit einem warmen, dennoch traurigen Blick an.

"Du musst dich für nichts entschuldigen, aber bitte erklär mir endlich, wieso es dir so schlecht geht. Ich will dir einfach nur helfen damit und dafür muss ich wissen, was passiert ist." Mir bleibt jetzt ja sowieso nichts anderes übrig. Ein paar Mal atme ich noch tief durch, bis ich zittrig anfange alles zu erklären. Alle Details.

Wie ich damals länger hier blieb um zu lernen und er mich in der Bibliothek festgehalten hat und... vergewaltigt hat.
Wie ich wochenlang Alpträume davon hatte und wie die Panikattacken passiert sind.
Wie der erste Suizidversuch ablief.
Und zu guter Letzt die ganze Geschichte von Hoseok, Namjoon hat scheinbar schon mitbekommen, dass er sich vom Dach gestürzt hat.

Das einzige, was ich ausgelassen habe ist die Selbstverletzung, einerseits kann Namjoon kein Blut sehen und mein blutender Hals setzt ihm vermutlich genug zu. Und andererseits würde er bestimmt wollen, dass ich aufhöre und das kann ich nicht. Ich brauche das einfach um Zuhause die Panik und Alpträume zu überwinden und ich würde Namjoon konstant enttäuschen, wenn ich es tue. Das will ich nicht, daher lasse ich es erst einmal weg.

"Sag mal, wie hast du mich eigentlich gefunden? Und wieso bist du mich überhaupt suchen gegangen?"

"Naja, du warst schon ziemlich lange weg, da habe ich mir Gedanken gemacht. Außerdem habe ich mitbekommen, was mit Hoseok passiert ist, da sie neben uns saßen und dachte mir, dass du womöglich auch dort bist. Erst war ich sogar auch kurz draußen, aber als ich dich nicht gesehen habe wollte ich dich bei den Toiletten suchen und habe Geräusche gehört. Und somit habe ich dich Gott sei dank noch schnell genug gefunden." Dankbar lächle ich ihn an, wie schlimm es für ihn hätte sein müssen, wenn er zu spät gekommen wäre.

"Wollen wir erstmal nach Hause gehen? Dann kann ich dir helfen mit den Wunden und du kannst dich ein wenig hinlegen." Ich nicke nur stumpf, sodass wir uns auf dem Weg zum Sekretariat machen.

"Ah hier, wickle den um. Dann kannst du sagen, du hast Halsschmerzen und wir gehen nach Hause. Und man sieht... die Abdrücke nicht."

"Stimmt, danke." Somit wickele ich mir den Schal fest um den Hals und wir verlassen kurz darauf das Gebäude. Er bestand darauf, zu sich zu gehen damit wir ungestört sind. Er will mir sogar mit den Wunden helfen, obwohl er kein Blut sehen kann, wie habe ich nur einen Freund wie ihn verdient?

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The incident° ~ Yoongi FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt