Paul Lahote, wie er leibt und lebt

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5. Kapitel

Paul Lahote, wie er leibt und lebt


Ohne viel Rücksicht auf Verluste zog Carlie den hübschen Bruder ihrer besten Freundin hinter sich her. Seine gelegentlichen Einwände wie „Jetzt hetz doch nicht so, der fährt schon nicht ohne uns", „Ich bekomm Seitenstechen" und „Ich hab meinen Schuh verloren" versuchte sie bestmöglich zu ignorieren. Erst als sie vor Seth's Haus ankamen, ließ sie ihn los. „Alles klar, Cinderella. Wir sind da", trällerte sie gutgelaunt. Zane sah sie finster an. „Nicht witzig", meinte er nur und zog sich seinen linken Schuh an. „Ein bisschen", erwiderte Carlie entschuldigend lächelnd. Erleichterung überflutete ihren Körper. Nicht mehr lange und sie konnte von hier verschwinden. Zurückkommen würde sie besten Falls im Frühjahr und nur mit einer geladenen Schrotflinte im Gepäck.

Nur wenige Minuten später kamen Seth und Leah aus dem Haus. Beide voll gepackt mit Tupperdosen. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie auf dem Weg zu Emily waren. Wobei Leah wahrscheinlich nur das Essen abgeben und danach wieder verschwinden würde. Konnte die junge Halbvampirin ihr nicht verübeln. „Hey, habt ihr es euch doch anders überlegt?", kam es von Seth, als er bei den Beiden ankam. Er strahlte sie mit seinem üblichen Grinsen an und in seiner Stimme schwang ein funke Hoffnung mit, auch wenn er die Antwort längst schon kannte. Aber das war halt Seth, der geborene Optimist. „Nein, Zane's Bruder muss jeden Moment kommen", antwortete Carlie. Gleich darauf fuhr auch schon jener Bruder mit seinem blauen Honda Civic in die Einfahrt der Clearwaters. „Wenn man vom Teufel spricht", murmelte Zane. Liam parkte den Wagen hinter Seth's Opel. Mit einem freundlichen lächeln stieg er aus und lief auf die kleine Gruppe zu. „Hat ein bisschen länger gedauert als gedacht, sorry", sagte er und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Kein Ding, ist uns gar nicht aufgefallen", log Carlie und erntete sofort einen ungläubigen Blick von Zane. „Seth kennst du ja und das ist seine Schwester Leah. Leah, das ist Liam", stellte sie die Zwei schnell einander vor, ehe die grimmige Cinderella etwas sagen konnte. Liam nickte Seth grüßend zu und als sein Blick auf Leah fiel, schien für einen kurzen Moment die Welt still zu stehen. Zumindest für zwei von fünf. Leah starrte Liam an, als wäre sie jahrelang blind gewesen und könnte nun zum ersten Mal in ihrem Leben etwas sehen. Mit verwunderten Blick beugte Carlie sich zu Seth. „Hat sie..?", flüsterte sie ihm mit leiser Stimme zu. „Ja", beantwortete er die Frage, noch bevor die junge Halbvampirin sie fertig ausgesprochen hatte. Er lächelte, die Erleichterung war ihm praktisch ins Gesicht geschrieben. Carlie konnte gar nicht anders, als ebenfalls zu lächeln. Leah war tatsächlich geheilt, von jetzt auf gleich war sie all den Kummer los. Wer hätte gedacht, dass die Prägung auch mal was gutes bezwecken konnte. Unweigerlich kreisten ihre Gedanken zu Paul. Für ihn war es kein Segen, für ihn war es ein Fluch. Und das konnte sie verdammt nochmal nachvollziehen. Wäre sie ein Wolf, hätte sie darauf auch kein Bock. „Sicher, dass ihr nicht mit wollt?", fragte Seth erneut. Fast flehend sah er seine beste Freundin an. Diese sah von ihm zu Leah. Carlie wollte weiß Gott nichts lieber als von hier zu verschwinden aber Leah, verfluchte Scheiße, Leah. Sie hatte so lange gelitten. Wenn es jemanden verdient hatte, noch etwas länger die Nähe ihres Seelenverwandten genießen zu dürfen, dann ja wohl diese Frau. Carlie atmete tief ein, ehe sie entschlossen zu Seth sah. „Wir würden gerne mitkommen, vorausgesetzt Liam hat nichts dagegen", antwortete sie so selbstlos wie es nur Mutter Theresa oder Esme fertig gebracht hätten. Scheiße, die Letztere wäre gerade so verdammt stolz auf sie. Fassungslos weitete Zane neben ihr die Arme aus und formte mit seinem Mund ein lautloses „What the fuck?" Liam löste seinen Blick von Leah und sah überrascht zu Carlie. „Ähm, ja. Von mir aus können wir bleiben, wenn du das willst", erwiderte er sichtlich überfordert. „Super", kam es von Carlie mit erzwungenem grinsen. Leah warf ihr einen dankenden Blick zu. Sie lächelte. Leah lächelte. Wahnsinn, sie konnte tatsächlich lächeln. „Danke", flüsterte Seth ihr ins Ohr, „Du bist meine persönliche Heldin". Carlie lächelte gequält. Eine Heldin die eine scheiß angst davor hatte, ihrem Kryptonit zu begegnen.

Bei Emily und Sam angekommen, atmete Carlie erleichtert auf. Paul war nicht da. Man möge es bitte wiederholen, nicht da. Sie schickte Stoßgebete in den Himmel, damit er sich weiterhin nicht blicken ließ und schwor, als Gegenleistung fortan jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. „Es ist schön, dich zu sehen. Ich hatte gehofft, dass du kommst", sagte Emily und umarmte Carlie zur Begrüßung. Kurz war die junge Halbvampirin über die Geste etwas überrumpelt, fing sich aber recht schnell wieder, als sie Emily's freundliches Lächeln sah. Dieses Lächeln wirkte so aufrichtig, dass Carlie sich ein wenig schuldig fühlte, weil sie eigentlich ums verrecken nicht kommen wollte. Sam warf Seth derweil einen skeptischen Blick zu, ganz offensichtlich wegen den zwei weiteren, menschlichen Gästen. Bis es ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen fiel. Direkt bildete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln. Ein befreites, friedliches Lächeln. Emily schien es nun ebenfalls zu bemerken. „Leah?", fragte sie vorsichtig, fast zaghaft. Diese nickte nur. „Ja", antwortete sie selig lächelnd auf die unausgesprochene Frage. „Oh mein Gott, Leah. Ich freu mich so", antwortete Emily freudig und strahlte ihre Cousine glücklich an. Sie war den Tränen nah. Leah erwiderte das Lächeln ihrer Cousine, wenn auch nicht ganz so breit aber dafür aufrichtig und befreit von dem Kummer, welcher sie viel zu lange geplagt hatte. „Und was ist mit dir? Hattest wohl doch Sehnsucht nach Paul", kam es leise von Jared, der sich grinsend zu Carlie gebeugt hatte. „Das hat nicht das Geringste mit ihm zutun. Er interessiert mich null, nada, niente", erklärte sie Jared grimmig. „Okay, dann ist ja gut, soviel ich weiß, müsste er nämlich gleich hier sein", kam es gespielt lässig von Jared. „Was?!", platzte es aus Carlie heraus. Geschockt sah sie ihn an. Dieser lachte kurz siegessicher auf. „Wie war das nochmal mit null, nada, niente?", zog er sie mit triumphierenden grinsen auf. Carlie funkelte ihn warnend an. Dieser Jared war ein Sadist. „Hör auf sie zu ärgern, sonst verpfeif ich dich bei Kim", mischte sich Seth ein und boxte ihm spielerisch gegen den Arm. Dieser hob unschuldig die Arme in die Luft. „Ich unterhalte mich nur nett mit ihr", verteidigte er sich. Jetzt lag es an Carlie, ihn triumphierend an zu grinsen, während sie von Seth auf den Platz neben sich gezogen wurde. Leah und Liam saßen bereits am Tisch, selbstverständlich nebeneinander und unterhielten sich prächtig. Zane ließ sich auf den Stuhl neben Carlie fallen und beobachtete seinen Bruder und Leah misstrauisch. Schließlich beugte sich zu Carlie rüber. „Was läuft hier?", fragte er sie leise und deutete auf die zwei neuen Turteltauben. Carlie pustete überfragt ihre Wangen auf. „Liebe auf den ersten Blick?", antwortete sie und klang dabei nicht sehr überzeugend, es hörte sich eher wie ein Vorschlag an. "Liebe? Auf den ersten Blick?", wiederholte er ungläubig, "Du glaubst doch nicht ernsthaft an so 'nen Scheiß?" Carlie zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung", murmelte sie nur. Natürlich glaubte sie nicht an Liebe auf den ersten Blick. Liebe war ein Gefühl und Gefühle entstanden nicht auf Knopfdruck, sie entwickelten sich. Leise, langsam, unaufhaltsam. Prägung war keine Liebe. Prägung war Besessenheit. Und Zwang. Auf einmal hatte sie soviel Verständnis für Paul. Sie konnte nachvollziehen, warum er sich so dagegen währte. Ernsthaft, sie würde das gleiche tun. Allerdings war das keine Entschuldigung dafür, wie er sich ihr gegenüber verhielt. Sie konnte schließlich genauso wenig was dazu. Sie saßen im gleichen Boot, entweder sie würden das beste daraus machen ohne ihre Werte dafür über Board schmeißen zu müssen oder sie gingen unter. Carlie seufzte innerlich. Mit Paul Lahote im Boot konnte man doch nur sinken. Der Typ besaß ja nicht mal eine Impulskontrolle. "Kommen Jake und Ness eigentlich nicht?", fragte Carlie an Seth gewandt. Wenn sie den Abend irgendwie heil überstehen wollte, dann nur mit mentaler Unterstützung ihrer Schwester. "Nein, Rachel hat sie und Billy zum Essen eingeladen, weil sie morgen wieder abreist", erklärte er. Genugtuung keimte in ihr auf. Die Vorstellung, dass Rachel ab morgen wieder weg war, gab ihr ein gutes Gefühl. Auch wenn Carlie sich ein klein wenig dafür verfluchte. Schließlich war Rachel Jacobs Schwester, Nessie's zukünftige Schwägerin. Carlie wusste nicht viel von ihr aber Ness sprach immer positiv über sie. Rachel war Ness's Familie, somit also auch ein Teil ihrer Familie. Familie die mit ihrem Wolf geschlafen hat, schoss es ihr augenblicklich in den Kopf. Fast instinktiv mahnte sie sich selbst für diesen Gedanken. Er war nicht ihr Wolf, er war nur ein Wolf. Einer der genug Pech hatte, sich auf sie zu prägen. Gott, dieses Sitzen und bangen dass er nicht auftaucht, machte sie noch verrückt. Fast schon hektisch sprang sie vom Stuhl auf und marschierte zu Emily hinter die Küchentheke. "Kann ich dir bei irgendwas helfen?", fragend sah sie die First Alpha Lady an. "Das musst du nicht", antwortete diese und winkte beschwichtigend ab. "Ich würde aber gerne", erwiderte Carlie und sah die junge Indianerin fast schon flehend an. Diese besah sich Carlie für einen kurzen Moment, ehe sie ihr lächelnd ein Geschirrtuch reichte. "Na dann", kam es amüsiert von Emily.

Während Carlie Emily bei den Vorbereitung fürs Essen half, ging Seth mit Zane ins Wohnzimmer zu den Anderen. Leah und Liam taten es ihnen irgendwann gleich aber auch nur, weil Liam ‚plötzlich' auffiel dass sein kleiner Bruder nicht mehr mit am Küchentisch saß. Nachdem sie das ganze Essen angerichtet hatten, ging Emily kurz in den Vorratsraum, um mehr Besteck zu holen. Carlie blieb als einzige in der Küche zurück und setzte sich wartend auf einen der Stühle. Und da war sie wieder, die Ruhe vor dem Sturm. Der Geruch ihres Wolfes erreichte ihre Nase. Sofort wurde ihr flau im Magen. Nervös rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. Ihr ganzer Körper reagierte auf seine drohende Ankunft.

Er kam, er sah und er ging - Prägung auf Umwegen (Twilight FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt