5. Über eine Superheldin ohne Superkräfte

544 43 11
                                    

Es war spät am Abend als ich von meiner langen Erledigungstour durch New York zurückkam und durch das Seitenfenster in Peters Wohnung einstieg. Er hatte mir immer noch keinen Schlüssel gegeben, ich hatte immer noch nicht gefragt und irgendwie hatte ich mich daran gewöhnt. Seit meinem Treffen mit Steve waren schon einige Tage vergangen und der Tag, an dem ich im Avengerstower aufzutauchen hatte, rückte erschreckend schnell näher.

Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder davor fürchten sollte, meine Familie wiederzusehen. Es war schon so lange her, dass ich ein richtiges Gespräch mit so vielen von ihnen geführt hatte, so viele Jahre, seit alles in Ordnung gewesen war, dass ich nicht einmal mehr richtig wusste, wie es sich angefühlt hatte. Ich hatte so viele von ihnen vor den Kopf gestossen, hatte so viele von ihnen ausgenutzt und alleine gelassen, nur, um immer noch so schrecklich wütend auf den Rest zu sein, nachtragend, weil sie mich damals zurückgelassen hatten, weil sie kein Recht gehabt hatten, alles, was wir über die Jahre aufgebaut hatten, einfach so zu zerstören, dass ich nicht wusste, wie sie reagieren würden, wenn ich sie wiedersah. Nicht zu Schweigen davon, dass ich die schreckliche Befürchtung hatte, dass es ähnlich enden würde wie mit Steve, mit dem ich mich beinahe sofort wieder zerstritten hatte. Ein Streit, den ich hätte verhindern können, wäre ich nicht so verdammt empfindlich, so unglaublich unversöhnlich. Meine Schuld. Wie immer.

Da ich auch noch befürchtete, dass der Plan der Avengers kaum mehr sein würde, als reinzustürmen, die CIA-Agenten zu verprügeln, Clint zu schnappen und wieder zu verschwinden, suchte ich ausserdem verzweifelt nach einem Plan B. Nach einem Weg, das Ganze zu schaffen, ohne die Welt noch mehr gegen die Avengers aufzubringen, ohne der CIA einen Grund zu geben, sie weiter zu jagen. Ich ging zu diesem Treffen, um wenigstens zu versuchen, die Avengers dazu zu bringen, logisch zu denken, auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass das nicht funktionieren würde. Es ging hier schliesslich um einen von ihren und sie waren noch nie logisch vorgegangen, wenn es um Rettungsaktionen ging. Damals war das ihre grösste Stärke gewesen: Heute war es ihre grösste Schwäche. Eine noch grössere Schwäche, wenn man bedachte, dass ich einfach keine alternative Lösung fand.

Anders als erwartet war das Apartment nicht leer, keineswegs. Leise Popmusik kam aus der winzigen Küche und das Licht war an, was nur heissen konnte, dass Gwen und Peter früher zurückgekommen waren als vermutet: Gwen hatte ihren Matschmonsterfilm beendet und sie waren mit der Crew und Peter noch was trinken gegangen. Ich nahm meine Baseballmütze ab und schob die Kapuze meines Hoodies zurück, endlich in der Lage, wieder aufrecht gehen zu können und nicht den Blick konstant auf den Boden zu richten, aus Angst, dass jemand mich erkennen würde, und schloss leise das Fenster hinter mir. Wer auch immer in der Küche war, er reagierte nicht, also war es wahrscheinlich nicht Peter, denn der hätte mich sicher schon gehört. Vielleicht hätte sein Spinnensinn sogar Alarm geschlagen, auch wenn er das früher nie hätte. Als ich noch sicher war, eine Vertraute, sein Partner. Ein Privileg, dass ich nicht länger genoss.

Gwen bemerkte mich zuerst gar nicht, als ich leise die Küchentür aufschob und mich gegen den Türrahmen lehnte. Sie war viel zu vertieft darin, kaum hörbar mitzusummen und sich im Takt der Musik hin und herzuwiegen, die Augen geschlossen, die Kaffeemaschine leise neben ihr rumpelnd. Sie hatte einen friedlichen Ausdruck auf dem Gesicht, zufrieden, wenn auch ein wenig schläfrig. Um ihre Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Sie sah schön aus, auf eine Art, wie ich es nie sein könnte, und einmal mehr verstand ich genau, was Pete in ihr fand. Der Moment verstrich als sie sich den Ellbogen an einem der vielen Schränke stiess und leise fluchte, die Augen aufschlug und mich entdeckte. Sie schien nicht sonderlich überrascht zu sein, dass ich da stand, aber trotzdem war es mir irgendwie unangenehm, dabei erwischt zu werden, sie beobachtet zu haben.

"Ich war gerade dabei, etwas zu sagen!", log ich und Gwen lachte leise.

"Wär' auch okay gewesen, hättest du nichts gesagt." Sie drehte sich zur Kaffeemaschine um und steckte sie vorsichtig aus, ihre Bewegungen seltsam abgehackt, als würde sie sich besonders Mühe geben, alles richtig zu machen. Sie seufzte erleichtert, als sie die Tasse herausholte und einen grossen Schluck nahm. "Du bist erst jetzt wieder zurückgekommen." Es war keine Frage, eher eine Feststellung, neugierig, aber trotzdem zurückhaltend. Sie wollte mich nicht drängen und das rechnete ich ihr hoch an.

Stark Chronicles: Final RoundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt