Erstaunlich gut gelaunt ging ich nach dem Sportunterricht zu den Kunsträumen, die im alten Turm lagen. Ich hatte zwar Angst, dass dieser bei einer falschen Bewegung zusammenstürzen würde, aber den rennenden Fünftklässlern nach zu urteilen, die mir aus dem Turm entgegengerannt kamen, hielt er einiges aus.
Ich lief die knarzenden Stufen hoch und hoffte, dass Blade und Cayt schon da waren, denn wir hatten neben Chemie auch Kunst zu dritt. Leider waren sie nicht da. Ich stellte meine Tasche neben der Tür ab und lief tief in meine Gedanken versunken auf und ab, als ich in der Ecke ein glänzen sah. Es war Blades Kette. Es kam mir komisch vor, denn er hatte sie weder zum schlafen noch im Sportunterricht abgenommen und sie war nicht gerissen, also hätte er sie nicht versehentlich verlieren können.
Ich blickte auf meine Armbanduhr: noch fünf Minuten bis zum Klingeln. Wo waren Cayt und Blade? Ich blickte mich um, um sicher zu gehen, dass keine Lehrkraft in der Nähe war und schrieb beiden eine Nachricht, in der ich fragte, wo zum Teufel sie steckten.
Ich stellte mich ans Fenster und sah auf den Sandweg, der zum Turm führte. Noch drei Minuten.
Zwei Minuten.
Eine Minute.
Es klingelte und weder Blade noch Cayt waren hier. Der Unterricht begann, Mrs. Rosewood zeigte uns einen langweiligen Film über irgendeinen Künstler, doch ich passte nicht auf. Nervös spielte ich mit Blades Kette, die ich nun um den Hals trug, um sie nicht zu verlieren. Unauffällig sah ich auf mein Handy: keine neue Nachricht.
Wo waren die Zwillinge nur?
~~~
"Mom, wo sind die Zwillinge?", fragte ich meine Mom, als sie mich überraschenderweise abholte.
"Welche Zwillinge?", antwortete sie mit einer Gegenfrage.
"Caytlynn und Blade Clark?"
"Schatz, geht es dir gut?", fragte sie besorgt und legte eine Hand auf meine Stirn. "Ich kenne keine Caytlynn oder Blade." Ich sah sie entsetzt an.
"Doch! Sie haben doch heute noch bei uns übernachtet!"
"Lizzy, keiner hat bei uns übernachtet. Vielleicht solltest du mit einem Therapeuten reden?" Ich fühlte mich immer unwohler. Warum würde Mom direkt einen Therapeuten vorschlagen? Was zum teufel war hier los?
"Mom!", schrie ich und sie zuckte zusammen. "Ich halluziniere nicht!" Doch ich war selber nicht mehr sicher, ob es die Wahrheit war. Außer vielleicht... Da! Die Kette lag in meiner Hosentasche, sie war definitiv keine Halluzination.
"Hier!" Ich hielt triumphierend die Kette hoch. "Blades Kette!" Ich war überrascht, als Mom die Kette entsetzt ansah und stotterte: "Wo- Woher h-hast du die K-Kette? Sie ge-gehörte Ludwig, aber e-er ist schon seit Hunderten von Jahren tot!"
Ich sah sie entsetzt an. "Ich glaube, ich laufe nach Hause." Mit diesen Worten öffnete ich die Autotür und machte mich auf den Weg nach Hause. Etwas überraschte es mich schon, dass Mom mich einfach gehen ließ, aber ich beschloss, mir später darüber Gedanken zu machen.
Ich lief an einem Buchladen vorbei, als ich plötzlich einen seltsam gekleideten Jungen sah. Er sah aus, als wäre er aus einem Film über das 17. Jahrhundert. Außerdem wirkte er ziemlich verloren.
"Hey", sprach ich ihn an. "Ich bin Lizzy. Wo sind denn deine Eltern?" Er sah mich an und ich stellte erschrocken fest, dass seine Haut unnatürlich blass und seine Lippen blau waren. Ich fühlte mich unangenehm an ein Foto einer Wasserleiche aus einer Dokumentation erinnert.
"Ich weiß es nicht. Sie haben mich ins Wasser geworfen. Hilf mir! Mir ist kalt! Mir ist sehr kalt!" Er klammerte sich an meiner Hand fest, die langsam sehr kalt und blau wurde.
Langsam wurden die Augen des Jungen dunkel wie die Tiefsee und seine Lippen verzogen sich zu einem unheimlichen Grinsen. "Komm zu mir", sagte er und legte seine kleine Hand an meinen Hals. "Ich bin so alleine! Es tut auch fast nicht weh!"
Plötzlich war ich auf einem alten Segelschiff. Mein Vater trug mich, in seinen Augen lag eine unendliche Trauer. Ich selber fühlte mich unendlich müde. Jede noch so kleine Bewegung, jedes Blinzeln war unfassbar anstrengend, jeder Atemzug tat schrecklich weh. Und mir war kalt, sehr kalt.
Mein Vater blieb mit mir auf dem Arm an der Reling stehen und blickte mir in die Augen, in den seinen spiegelte sich eine unendliche Trauer. Ich wollte ihn anlächeln, doch stattdessen fing ich nur an zu Husten, wobei mein Blut auf dem Hemd meines Vaters landete.
"Es tut mir leid, Ludwig", flüsterte er und drückte mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Eine Träne, die über seine Wange lief, war das letzte, was ich sah, bevor er mich ins Meer fallen ließ. Mein Körper sank ins Wasser, ich versuchte verzweifelt an die Oberfläche zu kommen, nach Luft zu schnappen. Doch jede Bewegung war anstrengend, unfassbar schmerzvoll und meine Lunge brannte mit jeder Sekunde immer und immer mehr. Meine Glieder wurden immer schwerer und schwerer, meine Gedanken langsamer und langsamer. Und dann hörte es auf.
Auf einmal änderte sich die Perspektive: ich stand hinter meinem Vater, der auf die Knie gesunken war, die Hände in den Haaren und den Mund in einem stummen Schrei geöffnet, während Tränen über sein Gesicht liefen. Ein zweiter Mann trat zu ihm und blickte aufs Wasser, in dem ein kleiner Junge um sein Leben kämpfte. Seine Versuche an die Oberfläche zu kommen wurden immer schwächer, bis sein zierlicher Körper ganz erschlaffte.
"Sie haben zu sehr auf die Engel vertraut, zu sehr gehofft, dass sie Ludwig retten. Und nun ist er selber einer von ihnen."
"Lizzy! Liz!", hörte ich jemanden rufen. Ein scharfer Schmerz durchfuhr meine Wange und ich schreckte nach Luft schnappend auf.
"Mein Gott, Liz. Du darfst uns doch nicht so erschrecken!", schimpfte Cayt, die neben mir kniete. Wie waren... auf der Schultoilette? Wie bin ich denn da hingekommen?!
"Wo- wie- was mache ich hier?" Cayt und Blade sahen mich verwirrt an. Warte, Blade?! Was macht er denn auf Mädchentoilette?! "Blade?! Was machst du denn hier? Geht es dir gut?"
"Ähm, Lizzy? Blade ist hier nicht", sagte Cayt vorsichtig. In diesem Moment verwandelte Blade sich in meine Mom. Und dann Jack.
Ich sprang auf und rannte aus der Mädchentoilette.
Was zum Teufel ist los mit mir?
DU LIEST GERADE
Aeternitas - Prophezeiung der Götter
FantasyEigentlich sollte der Umzug nach Bergston der Beginn eines neuen Lebens sein. In gewisser Weise wurde er das auch, nur war es nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte. Ich hatte eher an ruhige Nachmittage gedacht, an denen ich mich mit einem...