Wie die Gezeiten

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WASSER fiel ohne Unterlass vom Himmel herunter. Der genießerische, frische Duft des Regens verbreitete sich in allen Gassen, ebenso wie die kleinen Rinnsale sich an den Rändern der Straßen sammelten. Die Leute, welche draußen unterwegs waren, rannten im Eilschritt oder verdeckten ihre Gesichter unter den Kapuzen ihrer Regenjacken. Keiner von ihnen wollte länger als unbedingt nötig Zeit unter freiem Himmel verbringen. Ein kurzer Blick hinauf machte die Hoffnung so mancher Passanten auf ein baldiges Ende dieses Unwetters sofort zunichte. Graue Wolken türmten sich in schier unendlichen Konstruktionen auf und verdunkelten durch ihre riesige Masse immer mehr die blassen Strahlen des Sterns. Des fernen Sterns. Das leise Trommeln der Tropfen verwandelte sich von einem leisen Murmeln zu einem penetranten Rauschen, das bald sämtliche Geräusche des Alltags übertönte, derweilen der peitschende Wind den Fußgängern diese erbarmungslos ins Gesicht wehte.

Mitten in dem Getümmel aus rasenden Wassermassen und vorbeieilenden Silhouetten stand ich. Regungslos wie zu einer Salzsäule erstarrt verharrte ich an Ort und Stelle.
Die Menschen huschten wie dunkle Schatten gruseliger Dämonen an mir vorbei, ohne dass ich sie genauer wahrnehmen konnte. Mein verschleiertes Sichtfeld verdunkelte sich durch den tiefschwarzen Himmel immer mehr. Das Atem fiel mir zunehmend schwerer und meine Beine zitterten unter dem Gewicht meines Körpers. Mausbraune Haare klebten neben meinen durchnässten Klamotten wie eine zweite Haut an mir.

Ich sollte etwas fühlen.
Vielleicht erbarmungslosen Schmerz?
Vielleicht erleuchtende Freude?
Vielleicht tiefe Trauer?
Vielleicht Funken voller Hoffnung?
Ich sollte zumindest irgendwas fühlen!
Nicht diese grässliche Leere.
Nicht dieses klaffende Loch.
Nicht das gähnende Nichts.
Nicht die allumfassende Schwärze.
Leere.
Sollte sie nicht federleicht sein?
Sollte sie nicht dem Gefühl der Schwerelosigkeit gleichen?
Sollte sie sich nicht wie das Nichts anfühlen?

»Die Antwort lautet Ja, du dumme Gans!«

Ein ohrenbetäubendes Grollen erfüllte die Luft.

Aber wieso fühle ich mich dann so schwer?

»Das sind die Ketten der Schuld, die du dir aufgeladen hast!«

Ein greller Blitz zuckte über den nachtschwarzen Himmel und erhellte für wenige Sekunden mit seinem weißen, gleißenden Licht die regennassen Straßen. Wie von tausend Spiegeln reflektiert brannte jene Himmelserscheinung in meinen trüben Seelenfenster. Die entladene Energie war in der Luft so präsent, dass man fast glaubte, jene Spannung anfassen zu können. Ich müsste nur die Hand ausstrecken, um sie zufassen bekommen.
Kälte umströmte meinen bebenden Leib, derweilen der Regen gnadenlos auf mich herabstürzte. Die kleinen Tropfen trafen mit einer Wucht auf mich, als wollten sie mich freundlich daran erinnern, was ich getan hatte, dass ich schon wieder alles vermasselt hatte. Das Prasseln verschwamm in meinen Ohren immer mehr zu einem gehässigen, fiesen, Gänsehaut bescherenden Lachen. Darüber hinaus gesellte sich der höhnische Klang des aufwirbelnden Windes dazu.

Donner.

Blitze.

Wasser.

Alles braute sich zu einem grässlichen Unwetter zusammen.

»Alles, was du siehst, spielt sich auch in deinem Inneren ab:
Hörst du nicht das laute Geschrei?
Siehst du nicht die Bilder der Vergangenheit vor deinen Augen aufblitzen?
Spürst du nicht die Tränen, die deine Wangen herunterlaufen?
SPÜRST DU ÜBERHAUPT NOCH ETWAS?!«

Lautes Krachen.

Grelle Lichter.

Massen der flüssigen Naturgewalt.

Goldene Erinnerungen | LCDPWo Geschichten leben. Entdecke jetzt