Kapitel 1

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„Alter, du nervst gewaltig." Milan Ragnarök rollte mit den Augen und sehnte sich nach dem Wald. Nach Ruhe. Es war Montag. Gestern hatte seine Mutter gemeint, es ginge ihr nicht so gut. Selbstverständlich hatte ihr Sohn gesagt: „Klar. Morgen ist ja auch Montag..." Nun befand er sich in der Schule. Zweite Stunde und Frank hatte es geschafft Milan so richtig auf die Nerven zu gehen. Was natürlich öfter der Fall war.Im Klartext: Willkommen bei den Freaks!„Kannst du mal aufhören meinen-Boah! Wehe du fässt das an..." Milan nahm schnell sein frisch gemaltes Kunstbild in Schutz vor Franks Fingern. Frisch galt ein gemaltes Kunstwerk nun mal als gefährdet. Kunst. Das war momentan das beste an diesem Tag. Müde und lustlos stand der Junge auf und ging zur Blattablage.„ Hi Milan, wow. Der Orka sieht cool aus!" „Danke. Was zeichnest du?", fragte er abwesend, während er sein Bild in den Trocknerstand einsortierte. Ella bemerkte, dass er mal wieder genervt war. So wie sie. Ella war eine gute Freundin. Die beiden kannten sich einfach schon eine halbe Ewigkeit. Ella grinste. Milan erzwang auch eins. „Weiß noch nicht. Sehen uns später.", sie zog wieder ab auf ihren Platz.


„Ohhh, Milan..." Ein ätzender Typ namens Jasmino machte eine Herzhand. Einige Leute lachten. Milan strafte Jasmino mit Blicken wie Laserstrahlen, schnappte sich die Federtasche, die ihm am nächsten war und knallte sie Jasmino gegen den Kopf. Der kippte vom Stuhl. Volltreffer! Der Lehrer hatte zum Glück nichts mitbekommen. Zufrieden setzte sich Milan wieder.Es war nicht das erste Mal, dass jemand dachte er und Ella wären verknallt. Aber warum konnte man nicht einfach so befreundet sein?! Manchmal hieß es auch, dass Jungs, die sich mit Mädchen gut verstanden, manchmal einfach als schwul gehalten wurden. Was Milan nicht war. Aber immer diese Beschuldigungen. Sie kannten sich schon lange sehr gut und redeten halt. Andere in diesem Alter aber dachten halt immer so dumm. Es machte ihn dezent agressiv. Ella und er waren gefühlt die einzigen etwas intelligenten Wesen in dieser Klasse.Wie sich herausstellte, verpetzte Jasmino Milan bei dem Lehrer, indem er stöhnte: „Milan hat mir die Tasche gegen den Kopf geworfen!" Beschwerdend zeigte er auf den Übeltäter, der sich darauf hin gespannt im Stuhl zurücklehnte. Das kann doch wohl nicht wahr sein...„Oh. Jasmino, gehts wieder? Du kleine Heulsuse?", grinste der Übeltäter. „Raus Milan!", befahl der Lehrer und winkte ihn hinaus. Milan stöhnte und schnappte sich seine Tasche. Dieser Hund!


Nach der zweiten Stunde war Freistunde. Sobald die Klasse die Kunststunde beendet hatte, kam Ella auf Milan zu, der seit einer halben Stunde halb schlafend an der Mauer stand. „Buh!", erschreckte Ella ihn. „Ah-Ella..."Ella grinste ihn an. „Bist du müde?"„Es ist Montag und Jasmino ist ein dämlicher Idiot.", stöhnte er. „Ich weiß...", murmelte Ella nachdenklich.„Sag mal...wann wollten wir uns noch gleich für das Referat treffen? Gleich nach der Schule?" Milan stutzte. „Welches Referat?" „Du hast es nicht etwa vergessen, oder?" Der zerstreute Typ überlegte. Er hatte es tatsächlich vergessen. „Egal, wann machen wir das? Es muss Freitag fertig sein...So langsam sollten wir anfangen." „Da hast du vollkommen recht...aber ich kann heute nicht.", er versuchte entschuldigend zu klingen. Plötzlich entdeckte er einen Mäusebussard am Himmel kreisen. Er hatte Respekt vor diesen Tieren, der Grund war nicht bekannt. „Du hast keine Zeit? Was für ein seltenes Phänomen, Milan." Ella verschränkte die Arme und blickte ihn abwartend an. Seine Nervosität bemerkte sie langsam.„Genau...wir äh...ich bin unterwegs.", versuchte der auszuweichen und tat weiterhin entschuldigend.„Den ganzen Tag? Es reicht nur eine Stunde für dieses verdammte Referat!" Unzufrieden senkte Ella den Blick.„Ey, kannst du mal aufhören? Ich kann nicht!" Milan hielt das Gespräch für beendet, schnappte sich seine Tasche und ging zu den anderen Jungs hinüber.Ella verstand ihn nicht. Er hatte immer - naja fast immer - Zeit. Ausgerechnet heute also nicht? Egal, dachte sie. Sie konnte den Tag auch anders nutzen. Ihr kam ein federner Gedanke in den Kopf.

Drei Stunden später breitete eine Schleiereule namens Ella Steinberg ihre Schwingen aus und glitt über die Baumwipfel von Kiel. Ja. Sie war eine Wandlerin. Beim Fliegen vergaß sie alles um sich herum. Sie fühlte sich unglaublich frei.

Milan schmiss seine Tasche Zuhause angekommen in die Ecke. Er murmelte etwas von Hallo und war schon wieder aus der Tür. „Hey, wo willst du hin, Milan?" „Jasper..." Sein kleiner Bruder. „Ich...geh in Wald." „Kann ich mitkommen? Mir ist so langweilig." „Nee lass mal." Milan brauchte seine Gesellschaft gerade nicht. Er wollte allein seinen Tag genießen ehe er Hausaufgaben machen musste. „Tschau." Einige Straßen weiter an einem Fluss begann ein dichter Wald. Der Junge sah sich um. Niemand, er war allein. Gut so. Ohne lang zu überlegen, setzte sich Milan auf den Laubboden - an seinen Händen wuchsen Krallen, sowie es immer passierte. Rotes Fell. Sein Kopf wurde kleiner und war Sekunden später ein kleiner Kopf mit mini Ohren. Eine kleine Schnauze prangte im Gesicht, das zur Hälfte braun und weiß war. Ein leiser Schmerzenslaut entfuhr ihm, da sein Verwandlungsnerv sich umschalten musste. Perfekt umgeformt wuseltet das fuchsfarbendes Eichhörnchen namens Milan Ragnarök nun herum und sprang schon besser gelaunt auf eine Fichte.

Damit das verständlich ist: Milan ist ein Wandler wie wir jetzt alle wissen. Er ist damit aber leider der einzige in seiner Familie. Lange dachte er, mit ihm sei was falsch. Doch mit der Zeit kam er damit immerhin klar. Was ihm oft durch den Kopf ging, war die Frage, ob es noch andere Wandler gab. Er hatte jedoch gelernt, nie darüber ein Wort zu verlieren, da er sonst für völlig bescheuert gehalten werden würde. Leider wusste er nichts von anderen Wandlern.

Milan liebte des kühlen Wind in den Bäumen, legte sich eine Weile einfach auf einen Ast und schloss die Augen. Einen Moment genoss er die Stille, die Ruhe, keine Verantwortung. Plötzlich merkte er wieder diesen Schmerz im Kopf...Den gab es schon immer, doch hatte keinen richtigen Grund. Sobald dieser sogenannte Verwandlungsnerv einsetze, konnte die Verwandlung von Mensch zu Tier nicht mehr lang dauern. Mal schlimmer mal weniger. Es war immer ein Zeichen, das ihn sozusagen vorwarnte. Doch heute hatte alles ohne Probleme funktioniert und der Schmerz ließ langsam wieder nach. Saubere Sache heute.


Milans Fell war nass und glatt, die Ursache war leider nicht so glatt verlaufen. Ein Adler am Himmel hatte ihn aus dem Konzept gebracht und er war in den Fluss gefallen... Egal. Dort war sogar ein Essen! Beeilung...! Zack. Dieser Fisch war zu inkompetent um die Gefahr zu analysieren. Tja...er schmeckte. Dem Eichhörnchen, das nun aus dem Wasser watete, kam das Gespräch mit Ella wieder in den Sinn. Er hätte sie nicht so ruppig anfahren sollen. Sie konnte ja schließlich auch nichts für dieses dumme Referat über Pflanzenkunde.

Am Himmel erschien eine Gestalt. Eine große Schleiereule. Milan sah sie nicht. Er war noch mit dem Fisch beschäftigt. Bald flog Ella über einen Fluss, an dem ein Eichhörnchen im Wasser spatelte. Ella stutzte. Eichhörnchen im Wasser? Wer kam auf so eine Idee, vielleicht ein übergeschnappten Wandler? Sie flog zu einem Ufer des Baches und landete. Ja, es war definitiv ein Wandler! Ihr Verwandlungsnerv spielte wie verrückt, das hieß, dass ein Wandler in der Nähe war. Plötzlich hörte das Eichhörnchen (ganz klassisch) einen Ast knacken. Es ließ den Blick schweifen. Niemand. Es drehte sich wieder normal, als plötzlich eine riesige Schleiereule vor ihm stand. Sie stand direkt vor ihm und musterte ihn interessiert. Sowas gab es auch nicht alle Tage. Milan erschrak so darüber, dass sie direkt vor ihm stand, das seine Verwandlung einsetzte. Das war bei ihm Reflex bei einem Schreck. Aber halbwegs hatte er das schon im Griff.Nicht so heute. In Sekundenschnelle war das Hörnchen ein Junge mit Jeans und T-Shirt. Die Eule hüpfte jetzt auch erschrocken zurück.


Feinde unter unsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt