Kapitel 4 - Aria

42 2 0
                                    

Was war das denn gerade? Immer noch irritiert von Niks merkwürdigem Auftritt hier, betrete ich den Hörsaal zu meiner ersten Psychologievorlesung.
Ich setze mich in eine der hinteren Reihen, als mein Handy vibriert. Es ist Ryan.
"Können wir bitte telefonieren? Es ist wichtig!"
Ich seufze und schreibe zurück: "Rufe dich nach meiner Vorlesung an, versprochen."

Ryan ist sozusagen mein Freund. Wir sind kein gewöhnliches Paar, weil man heutzutage nur ein Paar ist, wenn man schon miteinander geschlafen hat. Wir haben es noch nicht getan und besser gesagt: Ich habe es noch nicht getan. Ich habe immer auf den perfekten Moment gewartet und jetzt bin ich 22 und noch Jungfrau, was absolut nicht schlimm ist, weil Jungfräulichkeit eh nur ein gesellschaftliches Konstrukt ist, um Mädchen unter Druck zu setzen.
Ryan und ich kennen uns seit zwei Jahren, zusammen gekommen sind wir vor einem Jahr. Er wohnt noch in Denver und arbeitet dort in einem Restaurant als Kellner. Wir haben uns geschworen, dass wir das schaffen, also die Fernbeziehung. Wir stehen das durch, zusammen.
Ryan hat mich wegen Sex noch nie unter Druck gesetzt. Wir haben schon oft miteinander rumgemacht, aber das wars auch. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht genau, worauf ich warte. Er ist der perfekte Typ für mich und es gab schon öfter perfekte Momente, wo es gut gepasst hätte, aber irgendwas in mir hat sich dagegen gesträubt.
Dass wir jetzt nicht mal mehr in einer Stadt leben, macht die Sache nicht einfacher.
Ryan hatte vor mir schon viele Beziehungen und er hat seine Erfahrungen gemacht. Eigentlich hatte ich vor, vor meiner Abreise mit ihm zu schlafen, aber es hat sich nicht mehr ergeben. Ich wollte es tun, weil ich Angst hatte, dass er mich betrügt, wenn ich wegziehe.
Es wäre einfach: Ich wäre nie da, es gibt viele Mädchen, die auf ihn stehen und er könnte jede Situation nutzen.
Ich weiß, dass er mich liebt, aber tief in meinem Inneren habe ich Angst.
"Junge Dame! Hören Sie mir zu?"
Ich zucke zusammen, als ein alter Mann neben mir steht. Er ist anscheinend der Professor.
"Ich rede mit Ihnen!"
"Oh, entschuldigen Sie. Ich war...in Gedanken."
"Das habe ich gemerkt...ich wollte Ihren Namen wissen."
"Aria Palmer."
"Gut."
Er hakt etwas auf seiner Liste ab und geht eine Reihe weiter. Na das kann ja was werden.

Ich bin froh, als die Stunde um ist und ich mich mit Jen für der Pause in dem Coffee Shop auf dem Campus verabredet habe.
"Ich habe schon mal einen Latte Macchiato für dich bestellt", sagt sie, als ich mich gegenüber von ihr an den Tisch setze.
Wir haben Spätsommer und es ist angenehm warm draußen.
"Danke. Weißt du, was wirklich merkwürdig ist? Vorhin war Nik Marino hier", sage ich. Jen reißt ihre Augen weit auf.
"Nikolai Marino? Ist das dein Ernst?!"
Ein Mädchen vom Nachbartisch starrt uns ungläubig an.
"Vielleicht könntest du etwas leiser reden", sage ich und presse die Lippen aufeinander.
"Was wollte er? Hat er mit dir geredet?"
"Wir sind uns gestern Abend schon in dem Club begegnet, als sein Cousin Kyrell mich angemacht hat..."
"Kyrell hat dich angemacht? Wieso erzählst du mir das erst jetzt?!", unterbricht Jen mich.
"Aria, die Marinos sind die einflussreichste Familie in..."
"In Ellesmere, ich weiß. Das hast du gestern schon erzählt."
"Also, was genau ist passiert? Lass keine Details aus!"
Ich erzähle Jen alles von dem Ereignis im Club gestern. Mir läuft immer noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich an Kyrell denke und wie er mich am Arm gepackt hat. Der Typ macht mir Angst und irgendwas sagt mir, dass das sein Ziel war.
"Und Nik ist heute einfach so auf dich zugekommen?"
"Ja, er wollte mit mir einen Kaffee trinken."
"Oh mein Gott! Was hast du gesagt?"
Jen bindet ihr haselnussbraunes Haar zu einem Zopf und lässt mich dabei nicht aus den Augen.
"Natürlich habe ich Nein gesagt. Diese Familie ist mir nicht geheuer. Außerdem will er doch eh nur das eine."
"Wäre das denn so schlimm? Eine Nacht mit Nik Marino und ich wäre für immer glücklich..."
Mittlerweile ist unsere Bestellung da. Jen hat sich noch einen Blaubeermuffin bestellt, der wirklich köstlich aussieht.
"Siehst du! Jede Frau in dieser Stadt würde mit ihm ins Bett gehen."
"Ja, aber nur dir will er einen Kaffee ausgeben. Nutz die Chance, Aria."
Ich trinke einen Schluck von meinem Latte Macchiato.
"Zugegeben, er sieht gut aus. Aber er ist mir viel zu arrogant. Außerdem habe ich einen Freund, schon vergessen?"
Jen verdreht die Augen. "Vergiss Ryan den Loser. Er hat dich eh nicht verdient."
"Wieso sagst du das? Apropos...ich muss Ryan noch anrufen."
"Wieso? Damit er dir wieder die Ohren vollheulen kann?"
"Sei nicht so fies!", schimpfe ich und stehe auf. Der Kaffee ist in einem Pappbecher, sodass ich ihn mitnehmen kann.
"Warte, bevor du gehst! Du musst mir einen großen Gefallen tun, Aria. Meine Eltern haben mich für heute Abend zum Essen eingeladen. Kommst du mit?"
Ich beiße mir auf die Unterlippe. "Deine Eltern?", frage ich. Jens Eltern sind die anstrengendsten Eltern, die ich kenne. Sie streiten sich, sobald sie sich miteinander unterhalten. Ich frage mich ernsthaft, wie die beiden schon so lange verheiratet sein können.
"Bitte, du darfst mich nicht alleine lassen mit ihnen! Wir gehen in irgend so ein teures Restaurant. Lass mich nicht hängen, Aria."
Sie setzt den Hundeblick auf. "Nicht den Hundeblick. Na schön! Aber du bist mir was schuldig!"
"Ich liebe dich!", ruft sie erleichtert, worüber ich lachen muss. "Ich dich auch, bis später. Ich hab jetzt meine nächste Vorlesung."

Ich bin froh, dass Jen und ich uns ein Zimmer im Wohnheim teilen. Eigentlich ist es unüblich, dass Drittsemester, wie Jen und Erstsemester wie ich sich ein Zimmer teilen, aber Jen meinte, sie hat Kontakte, über die sie das regeln konnte.

Kennen tun wir beide uns noch aus Denver, weil wir dort zusammen zur Schule gegangen sind. Dort wurden wir beste Freunde.

The Midnight Caller - Gefährliche LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt