Wir haben den Ort erreicht, an den ich immer gehe, um alleine zu sein. Heute ist das erste Mal, dass ich jemanden hierher bringe. Wir stehen an einem Abhang und können von hier aus direkt auf Ellesmere gucken.
"Wow, das ist wunderschön", staunt Aria und steuert auf den Abhang zu.
"Noch einmal fange ich dich nicht auf", warne ich sie. Sie dreht sich zu mir um und verdreht lächelnd die Augen.
"Das wolltest du mir also zeigen...", murmelt sie.
"Und wieso wolltest du ganze zwei Stunden dafür?"
"Weil es noch schöner ist, wenn in einer halben Stunde die Sonne untergeht", antworte ich und stecke meine Hände in meine Hosentaschen.
Aria nickt und zeigt auf die Bank hinter uns.
"Wieso setzen wir uns nicht?"Eine Weile lang starren wir nur nach vorne. Manchmal wage ich einen Blick zur Seite, um Aria zu beobachten. Sie hat ein wunderschönes Seitenprofil. Der Wind spielt mit ihrem dunklen Haar.
"Was beschäftigt dich?", fragt sie irgendwann.
"Wie kommst du darauf, dass mich etwas beschäftigt?"
Sie schaut mich ernst an. "Du bist so schweigsam, sonst versuchst du immer mich anzumachen."
Wir lächeln uns an.
"Familienkram", antworte ich dann. Ich habe nicht vor, sie irgendwo hineinzuziehen. Das könnte gefährlich werden.
"Ist es wegen Kyrell? Er hat da etwas gesagt, als ich da war..."
"Was hat er gesagt?", frage ich überrascht. Hat er etwa über unsere Familie gesprochen?
"Ach, egal."
"Aria, du musst es mir sagen. Wenn Kyrell irgendwelche Pläne hat, könnte das gefährlich werden."
Sie mustert mich interessiert.
"Genau das sagte er über dich. Er hat das Gefühl, dass du etwas im Schilde führst und ich soll es herausfinden."
Verdammt. Er ahnt also doch, dass ich etwas vorhabe. Dabei dachte ich, dass ich gut darin bin, ihn zu täuschen.
"Es ist so, dass mein Onkel der Chef unserer Familie ist. Und es ist auch so, dass er bald sterben wird und einen Nachfolger wählen musste. Er hat seinen Sohn Kyrell gewählt. Schon bald wird Kyrell das neue Oberhaupt der Familie."
"Das darf nicht passieren! Der Kerl ist krank!", ruft Aria, als wäre sie in das ganze involviert.
"Ich weiß, deswegen habe ich einen Plan. Ich will verhindern, dass er an die Macht kommt."
Sie blinzelt mich mit ihren grünen Augen an.
"Ich werde mich stattdessen als Anführer vorschlagen. Ich verrate damit den Ehrenkodex zu Kyrell, aber das ist es mir wert."
"Wieso erzählst du mir das?", fragt sie schüchtern. "Ich könnte es Kyrell sagen, immerhin hat er mich bedroht."
"Das wirst du nicht tun, das weiß ich. Er wird dir nichts tun, dafür sorge ich."
In ihren Augen blitzt plötzlich etwas auf, was ich an ihr noch nie gesehen habe. Verlangen. Lust.
"Wieso bist du nach Ellesmere gekommen?", frage ich. Ich habe das Bedürfnis, mehr über Aria zu erfahren.
"Naja, ich wollte schon immer studieren."
"Und da wo du herkommst, gab es keine Unis?"
"Doch. Ich komme aus Denver, da gibt es auch Unis, aber ich wollte einfach raus. Als Jen, meine beste Freundin, mir erzählte, wie toll es hier ist, war ich angetan. Also plante ich meinen Umzug, was nicht wirklich leicht war. Es war schwer meine Eltern zu verlassen und..."
Sie sieht mich unsicher an, als würde sie mich mit dem nächsten Wort verletzen.
"Und was?", frage ich.
"Und meinen Freund."
"Du hast einen Freund?", frage ich und versuche, mir meine Überraschtheit nicht anmerken zu lassen.
"Ja, ist das so überraschend?", fragt sie etwas gereizt.
"Nein, ganz und gar nicht. Ich wusste es nur nicht."
"Ich wusste nicht, dass ich dir das hätte sagen müssen. Das hier ist kein richtiges Date, falls du das denkst."
Ich zucke bloß mit den Schultern.
"Du scheinst nicht sonderlich glücklich zu sein in deiner Beziehung."
"Was?! Wieso sagst du so etwas?", fragt sie empört.
"Naja, du bist hier. Mit mir. Weiß dein Freund davon?"
Beschämt senkt sie den Blick. "Dachte ich mir", seufze ich.
1:0 für mich.
"Aber lass uns nicht darüber reden. Genieß die Aussicht, nur deswegen bist du ja hier", scherze ich.
Wieder verdreht sie die Augen. Wie gerne würde ich sie auf eine lustvolle Art und Weise jedes Mal dafür bestrafen, wenn sie die Augen verdreht."Ellesmere ist wirklich schön", murmelt Aria. Mittlerweile ist es dunkel und die Stadt wird durch helle bunte Lichter erleuchtet.
"Da vorne ist der Campus und da ist der Club", sage ich und deute mit den Fingern auf die Gebäude.
"Und was ist das da?", fragt Aria und zeigt auf den Skaterpark.
"Der Park indem die Kiffer abhängen", antworte ich.
"Aha, Freunde von dir?", fragt sie amüsiert.
"Nein, aber ich habe schon mal Gras geraucht, falls du das wissen wolltest."
"Ach ja?", fragt sie und zieht ihre eine Augenbraue hoch.
"Ja, aber ich würde es nie wieder tun. Ich bin dann ein komplett anderer Mensch."
"Okay, jetzt bin ich neugierig..."
"Naja, ich werde dann richtig lustig."
Aria presst die Lippen aufeinander, um sich ihr Lachen zu verkneifen. Schlussendlich bricht sie dann aber doch in schallendes Gelächter aus.
"Du und lustig? Das kann ich mir kaum vorstellen..."
"Na warts nur ab. Ich bin eigentlich total witzig", erwidere ich und muss nun auch lachen.Plötzlich fängt es an zu nieseln und der Regen wird immer stärker.
"Ich glaube wir sollten zurück", sage ich. Wir stehen auf und laufen durch den Wald zurück zum Auto.
"Bist du sicher, dass wir richtig laufen? Es ist komplett dunkel!", ruft mir Aria zu. Sie ist etwas weiter hinter mir.
"Ja, ich bin mir sicher...oh mein Gott! Hinter dir ist ein Wildschwein!"
Natürlich ist hinter ihr kein Wildschwein, aber der Anblick von einer kreischenden rennenden Aria ist einfach urkomisch.
Ich renne ihr hinterher so schnell ich kann.
"Du bist schneller, als ich dachte!", rufe ich lachend.Irgendwann sind wir am Auto angekommen. Völlig aus der Puste lehnt Aria sich ans Auto.
"Wie groß war das Wildschwein?", fragt sie und stemmt die Hände in die Hüfte.
"Da war keins. Ich hab dich verarscht."
"Du..." Sie kommt näher auf mich zu und boxt mich mit ihren kleinen zarten Fäusten in den Bauch. "Arschloch!"
Ich fange an zu lachen.
"Jetzt fahr mich nach Hause!"Auf der Fahrt erzählt mir Aria von Denver und von ihren Eltern. Ich liebe es, ihr dabei zuzuhören, wie sie von ihrem normalen Leben erzählt. So ein Leben habe ich mir immer gewünscht.
Ich halte auf dem Parkplatz vor dem Wohnheim und wir steigen aus.
"Ich bringe dich noch zu deinem Zimmer", sage ich.
"Das ist nicht nötig."
"Sicher? Was ist, wenn dich auf einmal doch ein Wildschwein angreift?"
"Ha Ha!"
Wir laufen nebeneinander über den Campus und einmal streifen sich unsere Hände. Gott verdammt, wieso hat dieses Mädchen so eine Wirkung auf mich?Vor der Zimmertür bleiben wir voreinander stehen.
"Also, danke. Es war nett", sagt sie verlegen.
"Nur nett? Welches Mädchen kann von sich behaupten, dass sie mit einem Typen durch einen dunklen Wald vor dem Regen geflüchtet ist?", frage ich und runzle die Stirn.
"Ja, das war super lustig, wirklich", antwortet sie mit sarkastischem Unterton.
"Nun ja, ich fand es auch sehr nett mit dir, Aria", sage ich voller Ernst.
Ihre Gesichtszüge werden weich und für einen Moment sieht es so aus, als würde sie auf meine Lippen starren.
Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Nein, verdammt. So etwas kann man sich nicht einbilden. Aria steht auf mich, sie traut es sich nur nicht, es sich einzugestehen.
Am liebsten würde ich sie einfach packen, an mich heranziehen und ihre weichen Lippen küssen.
Was hindert mich daran? Bei jedem anderen Mädchen hätte ich es schon längst getan.
Aber Aria ist anders.
Ich komme ihr näher und gebe ihr stattdessen einen Kuss auf die Stirn. In dem Moment geht die Tür neben uns auf.
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The Midnight Caller - Gefährliche Liebe
JugendliteraturPAUSIERT (A Mafia Story) Aria ist neu in der mystischen Stadt Ellesmere. Durch Zufall trifft sie auf den geheimnisvollen Nikolai Marino, dessen Familie sehr mächtig ist und zur Mafia gehört. Sie weiß, er ist nicht gut für sie. Kann sie ihm widersteh...