Tanz Aus Der Reihe - 4

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Bevor er irgendwie reagieren kann, streicheln kratzige Lippen über Johannes‘. Im allerersten Moment steht er wie versteinert da, kann nicht anders als das Gefühl, wieder jemandem nahe zu sein, zu genießen. Zwischen Ina und ihm lief es schon länger nicht mehr, sie waren am Ende doch zu verschieden. Johannes träumte von einer Familie, während heiraten für Ina gar nicht infrage kam. Sie war sich schon immer sicher gewesen, keine Kinder haben zu wollen. Lange hat Johannes geglaubt, dass auch ihm das genügen würde. Aber irgendwann waren ihm selbst Inas Vorstellungen von einer Beziehung, zum Beispiel, dass sie nicht mit ihm zusammen wohnen wollte, nicht mehr genug. Er will mehr, mehr von einer großen Liebe.

Clueso legt eine Hand an seine Wange und rückt ein wenig näher an ihn heran, um den Kuss zu vertiefen, und Johannes rührt sich noch immer nicht. Es fühlt sich so gut an, Wärme durchzieht Johannes‘ Brust, er schließt die Augen. Doch dann, als Cluesos Zunge gegen seine Lippen stupst, zuckt Johannes plötzlich jäh zurück.
Herrgott… das ist Clueso, der ihn küsst! Sein bester Kumpel!
Schwer atmend starrt Johannes seinen Freund fassungslos an, während Clueso zurück weicht und sich mit einer Hand in den Nacken fährt. »Scheiße«, entfährt es ihm. »Ich wollt nicht… vergiss es einfach, ich… bin betrunken, ich hab keine Ahnung, wieso… ach, verdammt! Schlaf gut…«
»Clueso…« Bevor Johannes irgendetwas sagen kann, ist Clueso stolpernd in seinem Zelt verschwunden und hat in Windeseile den Reißverschluss zugezogen. Und Johannes steht noch einen kurzen Moment da, mit wild klopfendem Herzen und fragt sich, was zur Hölle gerade passiert ist.

Dass sein Kumpel schwul ist, weiß Johannes schon seit einer Ewigkeit. Er selbst hatte Beziehungen mit Frauen und Männern, bevor er mit Ina zusammen gekommen war. Das war auch nie ein Problem – aber sie sind Freunde! Beste Freunde, und Johannes hätte niemals gedacht, dass es so weit kommen würde. Seufzend wankt er zu seinem eigenen Zelt und fällt beinahe in den Schlafsack, nachdem er mit zittrigen Fingern den Reißverschluss an der Zeltöffnung zugezogen hat. Seine Gedanken rasen, er spürt den süßlich-herben Geschmack des Bieres, das Clueso getrunken hat, noch immer auf seinen Lippen. Und verdammt, der Kuss war gut. So gut, dass er beinahe mehr zugelassen hätte, bevor sein Kopf realisierte, dass es sein bester Freund war, der ihn gerade geküsst hatte. Das Problem ist nicht, dass es ein Kerl war – bei weitem nicht.
Johannes findet lange keinen Schlaf, obwohl er hundemüde ist. Er wälzt sich von einer Seite zur anderen, fragt sich, ob Clueso im Nachbarzelt wohl schläft. Und natürlich fragt Johannes sich auch, was um alles in der Welt Clueso dazu bewogen hat ihn zu küssen. Okay, sie haben viel getrunken, aber so viel nun auch wieder nicht. Jedenfalls nicht genug dafür, dass sie beide diesen Kuss morgen vergessen haben werden.

Dass auch Clueso sich genau erinnert, bemerkt Johannes am nächsten Morgen sofort, als er dieser aus dem Zelt kriecht. Kurz begegnen sich ihre Blicke, doch Clueso senkt seine Augen sofort wieder.
»Oh Mann«, hält er sich stöhnend die Hand über die Augen, als hätte ihn nur die Sonne geblendet. Aber Johannes ist sicher, dass es nicht die Sonne ist. »Viel zu hell.« Ächzend richtet Clueso sich auf, sodass Johannes doch grinsen muss.
»Guten Morgen«, lacht er, dabei dröhnt sein Kopf mindestens genauso wie Clueso aussieht.
Clueso wirft ihm jedoch nur einen einzigen zögerlichen Blick zu, und auch während das Team mit dampfenden Kannen Kaffee zur Lagerfeuerstelle kommt, meidet Clueso seine Blicke.
Seufzend widmet Johannes sich seinem Kaffee. Soll es jetzt so weitergehen zwischen ihnen? Herrgott, es war bloß ein Kuss… soll diese blöde Aktion jetzt ihre ganze Freundschaft verändern?
Allerdings findet sich bis zu Cluesos Abfahrt ins Grootbos kein Zeitpunkt mehr, darüber zu reden. Ständig wuselt das Team um sie herum, oder Clueso geht ihm strikt aus dem Weg. Bedrückt nimmt Johannes es schließlich hin. Vielleicht ist hier und jetzt einfach nicht der Zeitpunkt, um zu reden.
Sie umarmen sich zum Abschied für die Kamera flüchtig und Johannes spürt dabei plötzlich sein Herz bis zum Hals klopfen. Erneut ertappt er sich dabei, wie er die Nähe genießt, seine Gedanken kreisen darum, wie schade es ist, dass Clueso geht. Um ehrlich zu sein, hätte Johannes gerne noch die letzten beiden Tage und seinen anschließenden Urlaub hier mit ihm verbracht. Viel zu gerne.
Der Abend, das Bier, der Kuss, all das haben ihn viel zu sehr verwirrt. Ganz sicher ist es richtig, dass er jetzt Zeit hat, das alles zu vergessen.
»Sorry«, raunt Clueso in der abschließenden Umarmung an seinem Ohr. »Ich bin ein Idiot. Vergiss es einfach, okay?«
Johannes nickt nur. Er sollte es vergessen. Aber das kann er nicht.

Nicht während der beiden folgenden Tage, in denen er eigentlich die atemberaubende Natur genießen wollte. Und auch nicht danach, als er zurück im Grootbos ist. Er bleibt noch eine Woche, versucht sich mit Musik abzulenken und schafft es sogar, mit dem neuen Song Plan A den Opener für die diesjährige Sing meinen Song-Staffel zu schreiben. Weil Plan A  auch gleichzeitig seine neue Single werden soll, nutzt Johannes direkt die atemberaubende Kulisse und sie drehen das Musikvideo im Grootbos. Noch mehr Ablenkung, die nur gut sein kann, aber doch nicht wirklich funktioniert.
Denn immer wieder zieht es Johannes zu seinem Handy, aber Clueso meldet sich nicht. Bis zum Tag seiner eigenen Abreise aus Südafrika hört er nichts von seinem Kumpel, absolut gar nichts. Niedergeschlagen versucht Johannes, sich einzureden, dass Clueso jetzt, nach seiner Rückkehr aus Südafrika, eine Menge zu tun hat. In einigen Bundesländern sind Konzerte wieder erlaubt, und natürlich nutzen die Musiker jede sich ihnen bietende Gelegenheit, auf die Bühne zu gehen. Aber das rechtfertigt dennoch nicht die Funkstille zwischen ihnen. Sie haben sich immer getextet, manchmal fast jeden Tag, wenn es ihre Zeit zuließ. Johannes vermisst es, vermisst Cluesos Witze, seine Art ihn aufzuziehen. Aber auch ihre ernsten Gespräche, was besonders wehtut, als Johannes ein paar Tage später wieder zuhause ist. Denn nun fehlt nicht nur Ina in seinem Leben, sondern auch sein bester Freund, und plötzlich ist es verdammt still um ihn herum.

Die nächsten Wochen verstreichen wie im Flug, weiterhin ohne eine einzige Nachricht von Clueso. Johannes versteht es einfach nicht, es bräuchte doch nur ein einziges klärendes Gespräch. Denn vergiss es einfach ist bei weitem nicht klärend. Irgendwann hat er keinen Bock mehr, darauf zu warten, dass von Clueso etwas kommt, und er wird sich garantiert nicht bei ihm melden. Schließlich ging der Kuss von Clueso aus, und obwohl er sich entschuldigt und Johannes gebeten hat, es zu vergessen, scheint diese dumme Sache nun immer zwischen ihnen zu stehen.

Mit den Sessions für das neue Album und der Promo für Plan A ist Johannes auch bis zum Hals voll mit Arbeit. Gemeinsam mit seinem Team arbeitet er die Setlist für die kommenden Sommer Open Airs aus und fühlt die steigende Aufregung in seiner Brust. Endlich wieder Konzerte, endlich wieder auf Tour. Johannes spürt, dass er es braucht, so sehr. Zudem wird die Plan A-Tour 2023 geplant, der Ticketverkauf läuft an – bis Anfang Mai und immer noch ohne, dass Clueso sich meldet. Johannes beruhigt sich damit, dass auch in ihrem Gruppenchat von dieser Staffel nicht so viel los ist, was einfach auch daher kommt, weil sie alle wieder viel zu tun haben. Clueso bringt seinen neuen Song Mond zusammen mit Elif heraus, und je näher der Start der TV-Übertragung dieser Staffel rückt, desto nervöser fühlt sich Johannes. Sollte er vielleicht ein Treffen zum gemeinsamen Schauen organisieren? Im letzten Jahr war es wie selbstverständlich, dass sie sich zum Start der 8. Staffel trafen, zwar ohne DJ Bobo, aber zumindest Joris, Nura, Tilmann und er. Aber niemand schreibt etwas dazu, und Johannes fühlt sein Herz ein wenig bluten. Es wäre doch einfach zu schade, wenn niemand…

Aber dann, einen Tag vor Ausstrahlung der ersten Folge, erhält Johannes eine Nachricht von Kelvin. »Ey, Bro, Bock, die erste Folge zusammen zu schauen?«, schreibt er und Johannes muss unwillkürlich schmunzeln. »Treffen bei mir in Berlin morgen Nachmittag?«
Johannes muss nicht lange überlegen, auch wenn er dafür als einziger nach Berlin fahren muss. »Bin dabei und freu mich! Bringe Bier mit«, antwortet er, und natürlich geistern sofort wilde Gedanken durch seinen Kopf. Ob Clueso auch da sein wird?
Selbst wenn nicht, beschließt Johannes, wird er dieses Treffen genießen. Denn Berlin bedeutet, dass zumindest Vincent, Dag, Elif und Lotte, die alle dort wohnen, dabei sein werden. Vorfreude durchzieht Johannes‘ Brust, er freut sich wirklich, alle wieder zu sehen. Ob mit oder ohne Clueso, sie werden diesen Staffelstart wieder gemeinsam feiern.

Und als sie sich am nächsten Tag in Kelvins Wohnung begrüßen, ist es, als lägen nicht zwei Monate zwischen Südafrika und heute, sondern höchstens ein oder zwei Tage. Sie umarmen sich, Johannes lässt sich sofort in Gespräche verwickeln, Bier wird verteilt.
Kurz zieht sich seine Brust schmerzhaft zusammen, weil Clueso nicht da ist, aber er traut sich auch nicht, Kelvin zu fragen, ob er kommt. Diese Enttäuschung will Johannes sich heute nicht geben.
Dann aber, um halb sieben, eineinhalb Stunden vor der Ausstrahlung, muss Johannes doch noch fragen. Er hält die Ungewissheit einfach nicht aus. »No idea, er hat nur geschrieben, dass er noch nicht weiß ob er’s schafft«, zuckt Kelvin die Schultern.
»Okay, danke, Bro.« Seufzend legt Johannes eine Hand auf Kelvins Schulter. Er sollte den Abend genießen. Auch ohne Clueso.

Tanz aus der Reihe (SMS 2022)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt