Mio

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Und Mio hatte viel zu erzählen.

Am Anfang berichtete er Alea davon, dass er immer das Gefühl hatte, anders zu sein, aber doch immer glaubte, es gäbe auch andere, die so wie er wären. „So wie du?", hakte Alea nach und Mio nickte.

„Ich habe nie gedacht, dass meine Knubbel von der Kälteurtikaria stammen. Wie hätte das Wasser gleichmäßig hinter meine Ohren, Finger und Zehen kommen können? Es wäre einfach ein viel zu großer Zufall gewesen. Außerdem... gehörten sie auch irgendwie zu mir. Anders als diese verfluchte Krankheit, die mich immer nur einschränkte und einfach... falsch war. Und dieser Drang zum Wasser, dieses plötzliche Erscheinen von Farben – das alles musste irgendwie zusammengehören. Ich hielt immer nach anderen Menschen Ausschau, die auch Knubbel zwischen den Fingern hatten."

„Aber du hast nie welche gesehen", bemerkte Alea.

Überraschenderweise widersprach Mio: „Doch, das habe ich. Ein junges Paar hatte genau dieselben hässlichen Narben zwischen den Fingern. Das war auf einem Fest, als ich mit meinen Pflegeeltern im Urlaub war. Jedenfalls habe ich das so in Erinnerung. Der ganze Tumult, die laute Musik, das Durcheinander; Als ich mich noch mal umgeblickt hatte, waren die zwei in der Menge verschwunden. Ich bin in dieselbe Richtung gelaufen, um sie zu finden, überall rempelten mich die Leute an, es war... na ja, jedenfalls bin ich irgendwann in einer Gasse angekommen, in der es vollkommen leer war. Überall herrschte eine Totenstille und von dem Paar hab ich auch nichts mehr gesehen. Und da habe ich bemerkt, dass meine Eltern gar nicht mehr da waren." Mio lächelte traurig bei dieser Erinnerung. „Ich war am Ende des Festes angekommen und gar nicht so richtig verstanden, was überhaupt los war. Damals war ich noch sieben Jahre alt. Wieso war ich plötzlich so allein? Warum fehlten meine Eltern? Ich bin noch einmal zurückgelaufen in die laute Menschenmasse hinein... irgendwann kam eine Durchsage, in der ein paar mal mein Namen fiel. Nur habe ich rein gar nichts verstanden. Doch eine ältere Frau hat mich dann auf Spanisch angesprochen und mich gefragt, ob ich dieser Junge sei, der vermisst wurde."

Als Mio lange nichts sagte, fragte Alea vorsichtig: „War es darum umso schwieriger, von deinen Pflegeeltern wegzulaufen? Weil du schon einmal auf einmal von ihnen getrennt warst?"

„Dieses Ereignis hat sich tatsächlich in mein Gedächtnis eingebrannt", bestätigte Mio. „Und es war furchtbar. Wirklich einfach nur..." Er biss sich auf die Unterlippe und atmete tief ein und aus. „Ich war nie gänzlich allein. Da waren immer meine Pflegeeltern, die sich um mich gekümmert hatten, sich immer nach mir umgesehen haben, wenn ich mich mal lange nicht gemeldet habe, einfach nur um zu sehen... ob ich noch da war. In den letzten Jahren hat das etwas nachgelassen, aber nichtsdestotrotz." Mio lachte unsicher. „Es mag ja kindisch klingen, dass ich immer noch so eine Scheißangst vor dem Weglaufen habe und dem Getrenntsein von meinen Eltern. Ich versuche, mich davor zu verstecken, indem ich immer tu, als ob ich fröhlich sei und gar nicht an die ganzen Dinge denken würde. Aber dem ist nicht so. Jeden Tag bereue ich es, abgehauen zu sein."

„Aber du kannst nicht zurück. Weil Orion womöglich immer noch nach dir sucht."

Womöglich", wiederholte Mio. „Nein, ich denke nicht, dass er wirklich immer noch nach mir sucht. Dazu bin ich... zu unwichtig. Ich bin nur ein einzelnes Meerkind von Hunderten. Eigentlich könnte ich jeden Moment zurück."

„Jedoch tust du es nicht", warf Alea ein. „Wenn du wirklich glaubst, dass Orion etwas mit den Meerkindern vorhat, nicht nur mit dir allein, warum gehst du dann nicht?"

„Weil ihr wichtiger seid", war Mios Antwort. „Weil die Auferstehung der Meerwelt wichtiger ist. Ich denke zwar nicht, dass ich irgendwann in den Ozeanen leben und mit Walen wandern werde, aber es gibt bestimmt unzählige Meerkinder, die die Chance haben sollten, in ihre Heimat zurückzukehren und für die es sich zu kämpfen lohnt. Da kann jeder Einzelne mithelfen und etwas bewirken. Und ich bin mir sicher, das kann ich am besten, wenn ich der Elvarion der letzten Generation zur Seite stehe."

Alea sah ihn für einen Moment perplex an, dann sagte sie: „Wenn wir alle zusammenhalten, dann werden wir es schaffen. Dann werden wir Orion besiegen und die Ozeane wiederbeleben. Und du hast recht – jeder Einzelne kann etwas dazu beitragen. Und wenn Nelani herausfindet, wie man ein Gegenmittel für den Virus kreieren kann – und das wird sie! - werden die Meerkinder den ersten Schritt tun und in ihre Heimat zurückkehren."

„Nelani ist deine Mutter, oder?", hakte Mio nach und warf damit auch indirekt das Thema auf, warum die Wandererbotschaften seit Neustem nicht mehr ankamen. Denn Alea hatte ihm eigentlich alles erzählt, von dem Herrenschwur und Lennox, aber das konnte sie auch jetzt noch nachholen. Also berichtete sie ihm von den letzten Wochen und Ereignissen, beantwortete ihm Fragen zu den Magischen und der Meerwelt, zeigte ihm sogar noch eine Buchmuschel und Sengbohne.

„Und von all dem haben die Landgänger keine Ahnung", murmelte Mio. „Die Meerwelt ist nur noch eine blasse Erinnerung weniger Menschen, deren Heimat die Ozeane waren und die den Virus überlebt hatten."

In diesem Moment hörten sie plötzlich ein lautes Hupen. Alea und Mio liefen die Bordtreppe nach oben an Deck und sofort stach ihnen ein großer Kahn ins Auge. Er war grau angemalt mit einem grellgelben Schriftzug Montagoris II. Die Segel sahen ziemlich neu aus und das Schiff selbst auch höchstens ein oder zwei Jahre alt. Es hatte deutlich mehr Taue und ein viel geräumigeres Deckshäuschen als die Crucis.

¡Dios mío!", rief Mio und starrte den wild darauf herumhüpfenden Sammy sprachlos an. „Man wird doch sofort bemerken, dass er geklaut wurde!"

„Ich eigentlich auch war für einen anders", seufzte Ben auf Hajara und schaute Sammy tadelnd an. Dann begann er auf Spanisch mit Mio zu reden, während Sammy aufs Deckshäuschen kletterte, in dem Lennox gerade die Montagoris II steuerte und Alea wissend zulächelte.

„Dieses Bötchen hier ist einfach nur total der Hammer!", schwärmte Sammy mit theatralischen Gesten. „Du musst mal die Innenausstattung sehen, Schneewittchen, da fällst du um! Und zwar auf die tollen flauschigen Plüschkissen auf dem Sofa! Und es gibt eine Spülmaschine und-"

„Dann kannst du ja gleich beim Ein- und Ausräumen helfen!", schlug Tess gespielt fröhlich vor, die gerade an Deck kam.

„Ach nö, danach ist mir heute nicht", entgegnete Sammy. „Das musst du wohl übernehmen."

„Oh, wirklich? Du möchtest wahrscheinlich noch deine Suite einrichten und dann am Bug einen Cocktail schlürfen, während ich deine von Filetsteaks verdreckten Teller einräumen muss, oder was?"

„Den Großen gebührt Großes, merk dir das." Sammy sah auf sie hinab, als sei er der König und Tess eine Untergebene, aber in seinen Augen glitzerte es verräterisch. „Außerdem habe ich gar nicht vor, auf den Kahn hier umzuziehen. Der ist dann doch ein bisschen zu schnieke. Ich bleib lieber auf der Crucis und die anderen Meerkinder können sich hier am Eisschrank bedienen." Er wandte sich Alea zu. „Willst du mal reinschauen, Schneewittchen?"

Das ließ sich Alea nicht zweimal sagen.


Mein Alea Aquarius 8Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt