Der Tag davor

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Fürs Abendessen holten sie sich bei einem Imbissladen ein paar belegte Brote auf die Hand, die sie dann vor dem Kolosseum verspeisten.
„Ob Orion schon hier ist?", fragte Alea, deren Blick die ganze Zeit auf den Kiosk aus der Silberfadenvision gerichtet war.
„Vielleicht liegt er gerade auf einem gemütlichen Bett in einem Hotel, liest Zeitung und trinkt Tee." Ben schaute sich auch ständig um. „Und morgen erwischen wir ihn dann aus dem Hinterhalt. Bloß", er zog eine Grimasse, als ihm gerade etwas einzufallen schien, „wie bekommen wir ihn zur Crucis?"
Sammy hörte auf zu kauen. „Oje." Auch Alea sah ihn erschrocken an.
„Wir können ihn ja nicht einfach vor all den Passanten dreißig Kilometer zum Meer zerren", sagte Ben. „Er muss irgendwie freiwillig mit uns kommen, sodass wir keine Aufmerksamkeit erregen."
„Und wie sollen wir das anstellen?", fragte Lennox. „Das einzige Mittel, mit dem wir ihm drohen könnten, hat jetzt Kit." Alea sah ihn vorwurfsvoll an.
„Ich hab doch schon gesagt, dass wir die Sengbohne nicht benutzen – vor allem nicht bei Menschen."
„Also auch nicht, wenn die Meerwelt davon abhängt?" Jetzt war es Lennox, der sie vorwurfsvoll anschaute.
„Es gibt bestimmt einen anderen Weg. Außerdem, wie du ja schon meintest, haben wir sie gar nicht mehr."
„Vielleicht ist in der Nähe der Crucis irgendeine verlassene Meermenschenstadt, bei der wir uns eine holen können", erwiderte Lennox. Ihm schien die Idee mit der Sengbohne wirklich zu gefallen.
„Du wirst Orion nicht damit drohen, ihn zu töten!" Alea wartete auf einen Widerspruch. Bis ihr einfiel, dass sie gerade eben Lennox etwas befohlen hatte. „Und überhaupt haben wir nicht mehr die Zeit wieder per Anhalter zum Schiff zu fahren."
„Wie sollen wir es eigentlich mit dem Trampen machen?", klinkte sich da Tess ein.
„Wir können uns aufteilen. Aber Ben muss mit Orion zusammen fahren", sagte Sammy. „Er ist der einzige, der es verstehen würde, wenn Orion auf Italienisch mit dem Fahrer redet."
„Glaubst du, er kann Italienisch?"
„In seiner Villa hat er uns erzählt, dass er sechs Sprachen spricht. Hajara, Deutsch, Gebärdensprache, Französisch und noch zwei andere, bei denen Italienisch bestimmt dabei ist."
„Wir gehen besser kein Risiko ein", stimmte Ben ihm zu.
„Aber die Frage ist noch immer: Wie bringen wir Orion überhaupt dazu, freiwillig mitzukommen?" Lennox lehnte sich zurück und fixierte Alea. Diese verdrehte bloß die Augen.
„Hmm", machte Tess. Aber mehr fiel ihr auch nicht ein.
Sie grübelten noch eine ganze Weile.
Bis Lennox aufsprang und rief: „Ich hab's!"
„Und?", wollte Ben wissen.
„Wir tun so, als wäre eine ganz normale Kartoffel die Sengbohne. Orion hat bestimmt lange nicht mehr so ein Dinge gesehen. Er geht allen magischen Gegenständen aus dem Weg und wird sich deshalb garantiert davon täuschen lassen!"
Sammy starrte ihn an. „Sir Scorpio... das ist genial!"
„Und wenn er nicht einmal weiß, was so eine Sengbohne anrichten kann?", fragte Alea.
„Er wird es bestimmt wissen." Lennox wies auf einen Stand. „Dort können wir so eine bekommen."
Alle waren einverstanden mit mit dem Plan, auch Alea, weil sie wusste, dass Lennox Orion nicht mehr mit einer Sengbohne drohen konnte. Deshalb erhob Ben sich, nahm ein paar Münzen und lief zum kleinen Bioladen, um die Kartoffel zu kaufen.
„Ich fahre dann im Auto mit Orion", entschloss Lennox.
„Ich auch", sagte Alea schnell und fügte hinzu, bevor Lennox widersprechen konnte: „Siska, Tess und Sammy sind dann im anderen. Ihr könnt gut Englisch sprechen, der Fahrer wird euch bestimmt verstehen."
„Klaro wird er das." Sammy nickte, als wollte er sich selbst beipflichten. „Mit meinem Sammy-Charme kann er oder sie mir nicht widerstehen!"
„Na super", brummte Tess. Alea erklärte den Plan Siska und diese war einverstanden.
„Kaum zu glauben, dass wir morgen den größten Schurken der Welt mit einer Kartoffel entführen!", quietschte Sammy. „Und wenn wir ihn zu einer Lafora gebracht haben, dann gibt er uns das Gegenmittel und die Meerkinder werden alle gespritzt und in den Ozeanen wird eine neue Zivilisation aufleben und die Magischen werden sich ganz arg freuen und wir können ganz in Ruhe auf der Crucis rumkurven und wir können endlich mal nach Peru segeln und wir sind von all dem Stress der Welt erlöst!" Alea war nicht ganz mitgekommen, so schnell hatte er geredet. Aber da kam auch schon Ben, mit einer großen Kartoffel in der Hand.
„Sieht die gut aus?", fragte er und übergab sie an Lennox.
„Perfekt", war die Antwort. „Alea, um wie viel Uhr fand die Vision ungefähr statt?" Alea zuckte mit den Schulter.
„Vielleicht um die Mittagszeit. Aber es kann auch später Morgen oder Nachmittag gewesen sein – es war jedenfalls nicht dunkel."
„Dann warten wir morgen den ganzen Tag lang auf Orion?", fragte Tess, die wohl wenig Lust hatte, stundenlang irgendwo sitzen zu bleiben und Löcher ins Kolosseum zu starren.
„Wir dürfen uns diese einmalige Chance nicht entgehen lassen – und warten wir Tag und Nacht, bis es Anzeichen von ihm gibt", erwiderte Lennox und holte tief Luft. „Wenn wir das hinkriegen, dann ist die Orion-Sache für immer vorbei. Wenn morgen nicht, dann wahrscheinlich nie mehr." Er war tief entschlossen, das durchzuziehen.
„Und vielleicht verrät er uns, wo Thea ist", murmelte Alea leise, sodass nur Lennox, der direkt neben ihr stand, sie hören konnte. Er nahm ihre Hand und drückte sie.
„Du wirst sie finden", sagte er zuversichtlich und ohne jeden Zweifel in der Stimme. Alea lächelte ihn traurig an.
„Sie kann irgendwo auf der Welt sein. Orion hat bestimmt viele ‚Stützpunkte', bei denen er sie gefangen halten kann. In der Villa Konungur ist sie bestimmt nicht, und nur Orions Leute kennen ihren Aufenthaltsort. Wie soll ich sie da finden? Er wird es bestimmt nicht verraten, wieso auch?" Alea biss sich verzweifelt auf die Lippe. Die plötzliche Trennung von ihrer Schwester war ein harter Schlag für sie gewesen. „Wie kann ich Thea bloß finden...", wiederholte sie.
Auch die anderen hatten sie jetzt gehört und bedrückende Stille setzte ein. Dann sagte Lennox: „Als ich noch auf der Straße gelebt habe, da hab ich immer Ausschau nach meiner Mutter gehalten. Ich wusste nicht genau, wie sie aussah, aber sie musste blaue Augen und schwarze Haare haben, und daran hab ich mich festgehalten; an der Hoffnung, dass sie irgendwann auftaucht, mich in den Arm nimmt, mir ein Zuhause schenkt, eine Zukunft mit ihr..." Er seufzte. „... wäre das schönste, was ich zu diesem Zeitpunkt haben könnte. Aber dann kamst du. Mit den klargrünen Augen und den langen Haaren. Und ihr alle – noch wusste ich nicht, was für ein Glück ich hatte, dass Alea mir gefolgt war, bis zu meiner Brücke. Durch die Alpha Cru wurde mein Leben wieder lebenswert, und als ich dann in Rach Turana erfahren hab, dass Xenia bereits seit vielen Jahren tot war, da hatte ich immer noch euch. Ich denke, euch zu treffen war das beste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist." Er schaute auf und Alea sah, dass er Tränen in den Augen hatte. „Ihr seid mein Anker im Sturm."
Eine Weile lang sagte niemand etwas. Dann nahm Alea ihn in den Arm und drückte ihn.
„Ich weiß auch nicht, wie ich ohne dich je leben konnte", flüsterte sie und wischte sich selbst über die Augen. Dann trat Sammy zu ihnen und schlang ebenfalls seine Arme um sie.
„Ohne dich wäre die Alpha Cru niemals komplett gewesen – das hätten wir alle gespürt, Sir Scorpio. Ohne dich sind wir gar nichts!"
Nach und nach schlossen sich auch die anderen der Umarmung an und sogar Tess gesellte sich zu ihnen, obwohl das eigentlich nicht so ihr Ding war. Aber dafür war sie auch die erste, die sich wieder löste. „Wir werden das morgen schaffen, okay?", sagte sie. „Wir gemeinsam." Damit legte sie ihre Hand in die Mitte, und alle anderen folgten. Schon schallte ihr Bandenruf durch das ganze Viertel Venedigs:
„Alpha Cru!"
Und Sammy fügte hinzu: „Ich bin total verliebt – in euch alle!"

Nachdem sie in einer Gasse, in der viele Geschäfte mit teuren Angeboten waren, ein paar Songs gespielt hatten, konnte die Alpha Cru für jedes Mitglied einen Schlafplatz in einer Jugendherberge besorgen. Sie alle schliefen in drei Zimmern aufgeteilt, Siska, Alea und Tess und Ben, Sammy und Lennox.
Im Mädchenzimmer meditierte Tess auf ihrem Bett, während Siska Alea leise von ihrem Leben vor dem Song Hinterm Wasserfall, der sie auf die Videokonferenz gebracht hat, erzählte. Alea erfuhr, dass Siska, die wie viele adoptierte Meerkinder an einem Fluss, See oder Meer wohnte, oft zum Kai spaziert ist, um zu sehen, wie die großen Schiffe in den Häfen einfuhren und Container abluden.
„Da war ich noch jünger", sagte Siska. „Und einmal ist sogar ein gigantisches Segelboot mit unheimlich vielen Segeln gekommen. Ich hatte früher richtig Angst davor, dass darin Piraten sein könnten, die die Stadt überfallen wollen." Sie lachte bei diesem kindlichen Gedanken. Sie erzählte noch, dass sie wie Alea nicht sonderlich viele Freunde in der Schule hatte, was aber zum Teil auch an ihrer schwarzen Hautfarbe lag, und das fand Alea total gemein und unfair. Aber Siska hatte eine gute Freundin gehabt, mit der sie oft zum Kletterpark gegangen ist.
„Darum konntest du so plötzlich vom Baum springen!", bemerkte Alea, als sie an das Ereignis an Orion dachte, das ohne Siskas Hilfe sehr kritisch ausgegangen wäre.
„Ja, meine jahrelange Übung hat sich auf jeden Fall bezahlt gemacht", erwiderte die Darkonerin.
„Ich könnte euch wirklich ewig lang zuhören, ohne ein Wort zu verstehen ", brummte da plötzlich Tess' Stimme. Sie hatte wohl schon länger mit Meditieren aufgehört. „Aber jetzt denke ich, dass wir schlafen sollten. Ihr könnt morgen weiterplaudern, wenn wir stundenlang auf Orion warten."
Alea fragte sich, ob Tess bloß so gleichgültig auf den morgigen Tag tat, denn schließlich hatte sie wie sie selbst eine Heidenangst vor Orion. Aber Tess hatte recht, deshalb legten sich auch Siska und Alea ins Bett.
„Misch Natalya", wünschten sie sich Gute Nacht, bevor das Licht im Mädchenzimmer ausging. Ihre Gespräche waren zwar verstummt und niemand machte mehr einen Mucks, doch Alea konnte ihre ganzen Gefühle an den Gedanken an morgen laut im Kopf pochen hören.
Es waren vor allem Entschlossenheit, Hoffnung, Sorge – und Angst.

Mein Alea Aquarius 8Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt