Kapitel 1

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„Jana!", schallte die Stimme von meiner Mutter aus dem Windfang. Ich schaltete mein Handy auf stand-by. „Nein!"

„Doch! Du kommst mit. Ob du willst oder nicht!" Die Tür zum Flur quietschte, als meine Mutter zurückkam.

Sie schob meine Zimmertür auf und verpasste mir den absoluten Todesblick, den eine Mutter so drauf hatte.

„Jana Maria Pocher. Du packst jetzt das Handy weg und kommst mit. Du warst den ganzen Tag noch nicht draußen, obwohl die Sonne scheint." Sie strich sich die gräulich werdenden Haare aus dem Gesicht.

Ich warf einen Blick auf meine zugezogenen Vorhänge. „Was soll ich draußen machen? Fotosynthese?" Genervt entsperrte ich mein Handy wieder und scrollte weiter durch lnstagram, obwohl ich dort schon seit Stunden nichts mehr wirklich Interessantes gefunden hatte.

„Der Doktor will dir doch nur helfen. Außerdem geht es um deinen Sommer.", versuchte meine Mutter zu argumentieren.

„Der Doktor kann mich mal."

„Jana!", ermahnte sie mich.

„Ja, is doch so." Der Lungendoktor ging mir auf die Eierstöcke. Mit seinem perfekt rasierten Bart, seinem weißen Kittel und seinem rechthaberischen Getue.

„Los. Maske einpacken und auf geht's. Sonst schalt ich den Router aus." Ich verdrehte die Augen. „Ich hab mobile Daten."

Trotzdem ließ ich mich dazu herab aufzustehen. Einfach, damit sie aufhören würde, mich zu nerven. Auf dem Weg aus der Tür blieb mein Blick an vier goldenen Siegertrophäen hängen, die leicht eingestaubt in meinem Bücherregal standen. Ein bitteres Schnauben entfuhr mir, bevor ich die Tür hinter mir zuknallte.

Mit der Maske in der Hand, meine Mutter neben mir, machten wir uns schließlich auf den Weg zur Bushaltestelle. Die Junisonne brannte heiß auf den Beton und ließ ihn flimmern. Meine rot-braunen Haare fühlten sich so an, als würden sie gleich in Flammen aufgehen. Gegen die Hitze halfen auch Hot-Pants und ein Top nicht.

Wenige Minuten später saßen wir im ekelhaft weißen, aber immerhin klimatisierten, Behandlungsraum vor dem Schreibtisch, hinter dem eben jener schleimige Lungenarzt saß, bei dem man sich auch fragte, ob seine Yachten wohl alle in einen Hafen passten. Die Maske machte mir zu schaffen, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Das leise Pfeifen meines Atems mischte sich mit der Stimme des Arztes.

„Jana, bitte.", meinte meine Mutter schließlich, mit einem etwas pikierten Seitenblick. Genervt zog ich das blaue Spray aus meiner Hosentasche und atmete das ekelhafte, nach Metall schmeckende Zeug ein. Ich gab es nicht gerne zu, aber es atmete sich doch leichter, obwohl ich die Maske wieder aufgesetzt hatte.

„Was sagst du denn dazu?", fragte der Arzt mich. Anscheinend hätte ich zuhören sollen. Ich zuckte die Schultern.

„Du würdest für den Rest des Schuljahres befreit, oder online unterrichtet werden, dann ist das mit der Schule auch kein Problem.", erklärte er, in der üblichen, wichtigtuerischen Art. Jetzt horchte ich doch auf. Wenn es um's Schule schwänzen ging, war es vielleicht do

nicht so uninteressant. ,,Wie genau?"

„Wir würden dir für ab Mittwoch einen Antrag auf Befreiung stellen. Dann hast du noch Montag und Dienstag Zeit, deine Sachen aus der Schule zu holen und dich von deinen Freunden zu verabschieden." Ich unterdrückte ein Schnauben. Wenn ich denn richtige Freunde hätte. ,,Dann würdest du am Mittwoch direkt nach Südtirol fahren."

„Was?!", entfuhr es mir jetzt doch.

Jetzt schien auch der Arzt zu merken, dass ich die ganze Zeit vorhin auf mentalem stand-by gewesen war, obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

„Auf Kur. Bis zum Ende des August. Auf einen Hof im Vinschgau.", erklärte er mir so langsam, dass ich mir wieder vorkam wie im Kindergarten. „Es ist eine tolle Gelegenheit. Viele asthmakranke Patienten haben mit diesem Hof gute Erfahrungen gemacht. Bergluft, Wasserfälle, Ponys-"

Anscheinend stoppten ihn meine absolut entgleisten Gesichtszüge. Meine Wut mühsam kontrollierend wandte ich mich langsam an meine Mutter. „Ponys?", wiederholte ich, das Wort fast ausspuckend. „Ihr wollt mich auf einen Hof mit Ponys schicken, nachdem ihr mich vor drei Jahren gezwungen habt, mit dem Reiten aufzuhören?", fauchte ich.

„Schatz, du darfst das nicht so sehen. Es geht um deine Gesundheit.", versuchte sie mich zu beschwichtigen. Vermutlich lächelte sie gerade gekünstelt, aber das musste ich mir dank der Maske zum Glück nicht ansehen.

„Jana, deine medizinischen Werte sind eine Katastrophe und gerade mit der Pandemie momentan wäre es gut für dich, wenn du etwas aus Köln herauskommst.", mischte sich der Arzt ein.

„Das ist mir scheißegal.", knurrte ich. Genauer gesagt hoffte ich schon seit drei Jahren, dass ich bei einem Anfall einfach draufgehen würde.

„Ich weiß, dass dir das egal ist, aber es gibt Menschen, denen ist das nicht egal." Der Arzt versuchte zu lächeln.

Ich seufzte resigniert. Meine Mutter wäre doch ohne mich ohnehin besser dran. Ohne ihre kranke Tochter, die ihr seit 15 Jahren ein Klotz am Bein war.

Doch anscheinend wurde meine nicht-Antwort als Zustimmung gewertet, denn der Arzt schob meiner Mutter irgendwelche Dokumente zu, die sie unterschrieb. Ich konnte nicht anders, als sie fassungslos anzustarren. Wie konnte sie?

Den ganzen Weg mit dem Bus zurück zur Wohnung sprach ich kein Wort mehr mir ihr, sondern starrte stumm abwechselnd aus dem Fenster und auf mein Handy. Drei Jahre, nachdem sie mich dazu gezwungen hatten mit dem Reiten aufzuhören und meine Mutter meinen Dancer einfach so verkauft hatte, wollten sie mich plötzlich auf einen Hof mit Ponys schicken. Um mir zu helfen.

Das Quietschen der Bremsen übertönte mein Schnauben. Ich brauchte keine Hilfe. Hilfe konnte mich mal am Arsch lecken. Am Ende war es wieder so was wie die Lungenklinik, in der ich nach meinem bisher schlimmsten Anfall vier Monate hatte verbringen müssen. Mit Ärzten, die sich nicht wirklich für einen interessierten. Schwestern, die nur da waren, um ihre Miete zu bezahlen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich damals wirklich gestorben wäre.


Tamaluk - zwölf Wochen SüdtirolWo Geschichten leben. Entdecke jetzt