Kapitel 4

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Das Abendessen war unangenehm. Es wurde viel gelacht und erzählt, aber ich war kein Teil davon. Es wäre mir auch lieber gewesen, wenn Heidi nicht die ganze Zeit versucht hätte, mich in das Gespräch einzubinden. Stumm saß ich auf der Eckbank und gab mir auch keine Mühe so auszusehen, als würde mir die Sache hier Spaß machen. Ich hatte es mir nicht ausgesucht hier zu sein und das würde ich sie auch spüren lassen. Es kotzte mich an, dass sie allesamt so unfassbar freundlich waren.

Zwei Stunden später, ich hatte mich nach dem Essen sofort in das Schlafzimmer verzogen, ohne die Intention, es bis zum nächsten Morgen wieder zu verlassen, konnte ich immer noch hören, wie im Nebenraum laut über den Tausch von Holz gegen Lehm verhandelt wurde. Genervt stöpselte ich mir die Ohren zu. Warum konnten sie sich nicht einfach wie normale Menschen verhalten?

Wenig später ging die Tür auf und Isabelle kam herein. Anscheinend besaß ihr Gesicht keine anderen Emotionen, außer ein grenzdebiles Grinsen.

„Hattest du keine Lust aufs Spielen?", fragte sie mich, während sie im Schrank nach irgendetwas kramte.

Ich stöhnte. „Seh ich so aus?!"

„Frag ja nur. Musst mir deshalb nicht gleich den Kopf abreißen.", entgegnete sie und zog einen Schlafanzug aus dem Schrank.

Genervt stand ich auf, um vor ihr noch im Bad zu verschwinden.

Als ich wieder nach draußen kam, zog sie ich gerade um. Mein Blick blieb ungewollt an ihrem Oberkörper hängen. Es sah aus, als würde sie ein, mit zwei Gürteln zusammengehaltenes Haus einer Schildkröte tragen. Nur aus Plastik und ohne die Schale. Und in Grau.

„Was ist das denn?", rutschte es mir heraus.

„Medizinisches Korsett.", gab sie knapp zurück und sie striff schnell ihr Schlafshirt darüber. Jetzt wurde sie anscheinend doch wortkarg. „Deshalb bin ich hier."

Sie hatte gar kein Asthma? Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie noch nicht im Bett lag, schaltete ich das Licht aus und kletterte in das obere Bett. Sie gab keine Widerworte von sich. Eigentlich hätte es mir auch auffallen können, dass sie kein Asthma hatte. Sie hatte, in der Zeit, in der ich mein Spray drei Mal hatte benutzen müssen, gar nichts getan. Wenn sie kein Asthmapatient war, ergab das natürlich Sinn.

Patient. Wie ich dieses Wort hasste. Egal wo ich in meinem Leben hinging, immer war ich ein Patient. Ich hasste es, so behandelt zu werden, als wäre ich ein rohes Ei, was beim kleinsten Bisschen Staub oder Sport sterben würde. Ich hasste es, dass ich immer die war, die für Aufmerksamkeit ihr Asthmaspray auspackte. Dass es Momente gab, in denen ich lieber krepiert wäre, als von anderen dabei beobachtet zu werden, war den Anderen egal.

Seit drei Jahren hatte ich auch keinen Grund mehr, noch weiterleben zu wollen. Was hielt das Leben schon für mich bereit? Dancer war weg. Ich hatte keine Freunde. Für meine Mutter war ich ein Klotz am Bein. Was war ich schon wert? Wenn der Arzt der Meinung war, dass diese drei Monate hier irgendetwas an meinem psychischem oder körperlichen Wrackzustand ändern konnte, dann hatte er sich geschnitten. Ich hasste es hier jetzt schon mehr, als überall sonst.

Ich war wieder in der Halle. Sprünge waren aufgebaut und in der Mitte stand mein Trainer mit der Stoppuhr. Dancer kaute unruhig auf seinem Gebiss und tänzelte auf der Stelle.

Sobald mein Trainer das Kommando gab, trabte ich an. Ich trieb Dancer in den Galopp. Er wehrte sich nicht. Er wehrte sich nie.

Kraftvoll setzte er über das erste Rick. Doch als seine Hufe den Boden wieder berührten, waren die anderen Sprünge verschwunden. Der Boden staubte, als würde jemand mit einem Ventilator darüberblasen. Ich wollte nach meinem Trainer rufen, aber aus meiner Kehle drang kein Laut. Mein Atem wurde flacher. Aus dem Staub, der mich zum Husten zwang, sah ich eine Silhouette auf mich zukommen. Es war Wendy.

Tamaluk - zwölf Wochen SüdtirolWo Geschichten leben. Entdecke jetzt