Kapitel 3

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Nach der Beerdigung verließ ich kaum noch das Haus meines Onkels. Ich hatte keine Kraft, um mich aufzuraffen und nach draußen zu gehen. Mir fiel es schon unglaublich schwer, auf die Toilette zu gehen oder zu duschen. Das Einzige, wofür ich noch Kraft hatte, war mit meinem Onkel das Grab meiner Eltern zu besuchen. Ich wollte mit niemanden reden und nicht hören, wie glücklich alle anderen Menschen waren, die mit ihren Familien an die verschiedensten Orte fuhren, um schöne Erinnerungen zu sammeln. Es brachte mich innerlich um, wenn ich ihr Glück mitansehen musste.

Es war stockdunkel im Zimmer, da ich die Rollläden runtergelassen hatte. Ich presste den Teddybär, den mir meine Freunde irgendwann geschenkt hatten, an meine Brust. Dieser hatte ein weißes T-Shirt mit dem Bild meiner Eltern an. Das war ihr letztes Facebook-Profilbild, aber darauf strahlten die Beiden heller als die Sonne. Ich hatte das Bild geschossen, als wir einen Ausflug zum Strand machten. Sie saßen zusammen auf einer Bank und Appa legte beide Arme um Eomma, um sie durch zu knuddeln. Sie schmiegten ihre Wangen aneinander und lachten herzhaft in die Kamera. Sie waren so glücklich an diesem Tag. Das war unser letzter gemeinsamer Ausflug. Ich schluchzte leise, während mir Tränen seitlich über das Gesicht flossen, da ich auf der Seite lag. Ich vergrub mein Gesicht in dem weichen braunen Stoff des Teddys und roch das Lieblingsparfüm meiner Eltern.

"Jimin? Möchtest du etwas essen?", kam Onkel Yun ins Zimmer, aber schaltete das Licht nicht an, wofür ich ihm dankbar war.

"Nein", antwortete ich schluchzend auf seine Frage und bewegte mich keinen einzigen Zentimeter.

"Okay...", murmelte er und schloss die Tür wieder, sodass ich wieder komplett von der Dunkelheit verschlungen wurde.

Ich wusste, dass mein Onkel sich extreme Sorgen um mich machte. Seit über vier Wochen verließ ich das Zimmer nicht, außer um meine Eltern zu besuchen und lehnte jeden ab, der ansatzweise versuchte, mich aus diesen vier Wänden rauszulocken. In mir herrschte eine Leere, die von niemanden gefüllt werden konnte. Mir fehlte mein Appa, der mich morgens aus dem Bett warf und schreckliche Lieder sang, um mich zu nerven. Ich vermisste Eommas Lachen, wenn sie ihn für seine schiefe Gesangseinlage auslachte. Seit ihrem Tod herrschte totenstille. Diese Wärme in mir war verschwunden und ich fühlte mich verloren.

Ich konnte nicht für immer bei Onkel Yun bleiben. Mein Anblick tat ihm selbst unfassbar weh. Er sah ständig seinen Bruder, wenn ich ihm vor die Augen trat. Diesen Schmerz, den er verspürte, ertrug ich nicht. Ich fühlte mich schlecht ihn jedes Mal aufs Neue zu verletzen. Er hatte nur noch mich. Seine Eltern waren vor einigen Jahren gestorben, sodass wir beide ganz allein in dieser riesigen Stadt waren.

Die Verwandten von Eomma lebten alle in Busan und besuchten uns nicht oft. Wahrscheinlich werden sie mich gar nicht mehr in Seoul besuchen. Ich müsste zu ihnen fahren, was ich nicht unbedingt wollte. Ich verstand mich eigentlich nur gut mit Tante Miga, die jüngere Schwester meiner Mutter. Ihre ältere Schwester, Jihe, mochte mich nicht besonders. Sie nutzte jede Gelegenheit, mich zu kritisieren. Als Kind hatte ich das Gefühl, dass sie eifersüchtig auf meine Mutter war, weil mein Vater sich für sie entschieden hatte. Sie war zwar verheiratet, aber ihre Blicke sprachen manchmal Bände. Sie war auch die Einzige, die nicht zur Beerdigung kam, weil sie auf Geschäftsreise war. Selbst ihr Ehemann war mit ihren Kindern anwesend.

Mich machte der bloße Gedanke an diese Frau wütend. Sie konnte nichts anderes als irgendwelche Aufstände zu machen und das Leben meiner Eltern schwer zu machen. Manche Familientreffen endeten im Schrei Wettbewerb, weil ihr irgendwas nicht passte. Ich konnte diese Frau einfach nicht leiden. Sie war eine schreckliche Person. Onkel Yun sagte immer zu mir, dass ich dieser Frau nicht in die Augen schauen sollte, weil sie mich sonst verfluchen würde, weil sie eine blöde Hexe war. Er konnte sie genauso wenig leiden wie ich.

Mein Handy fing an zu klingeln und riss mich aus meinen Gedanken. Das helle Licht vom kleinen Bildschirm blendete mich, darum streckte ich meine Hand danach aus und sah mit zusammengekniffen Augen, wer mich da anrief.

KIM SEOKJIN

Leise seufzte ich und nahm den Anruf ab. Wenn ich seine Anrufe ignorierte, tauchte er in der nächsten Stunde hier auf.

"Hallo?", brachte ich krächzend heraus.

"Hey, Jimin. Ich wollte bloß sicher gehen, dass du deine Nummer nicht gewechselt hast, weil ich so oft anrufe", begrüßte er mich fröhlich.

"Nein, ich habe meine Nummer nicht gewechselt", murmelte ich müde und legte das Handy auf meine Wange, damit ich mich an den Teddy kuscheln konnte.

"Das ist super. Ich wollte dich fragen, ob du mit mir zum Friedhof kommen möchtest. Ich habe Blumen für deine Eltern gekauft und stehe eventuell mit meinem Auto in eurer Einfahrt", fragte er mich und ließ mir keine andere Wahl als einzuwilligen.

Somit versuchte er mich aus meinem Loch zu holen, was ihm gelang, denn für meine Eltern ging ich über alle Berge. Wenn ich vor ihren Gräbern stand, fühlte ich mich ihnen nahe und beschützt von allem Bösen.

"Gib mir fünf Minuten. Ich komm nach unten", gab ich ihm Bescheid und legte auf.

Danach schmiss ich mein Handy auf die Matratze und kroch aus dem Bett. Ich schaltete die Nachttischlampe an und zog meine weißen Sneaker an. Ich trug eine schwarze Jogginghose und einen schwarzen Kapuzenpullover, darum dachte ich gar nicht daran mich umzuziehen. Danach verließ ich mein Zimmer und lief die Treppen nach unten. Onkel Yun saß auf der Couch und sah mich an, als ich die Treppe runter kam. Die Treppe führte direkt ins Wohnzimmer, wie in diesen alten Sitcoms wie Fullhouse.

"Seokjin steht vor der Tür. Wir gehen zum Friedhof", teilte ich ihm knapp mit und ging zur Haustür.

"Sag Hallo von mir", sagte er leise und er meinte damit nicht, dass ich Jin grüßen sollte.

Ich presste die Lippen zusammen und nickte mir selbst zu, bevor ich die Tür öffnete. Mein bester Freund starrte ernst auf den Boden, aber hob den Blick augenblicklich, als er mich hörte. Sein Gesicht erhellte sich und er breitete die Arme aus, um mich fest zu umarmen, als ich vor ihm stand. Ich erwiderte die Umarmung halbherzig und ganz tief im Inneren war ich froh, ihn zu sehen.

Guardian | JikookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt