Kapitel 4

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Schweigend stand Jin hinter mir, während ich die große Marmorplatte des Grabsteins mit einer Gießkanne vom Schmutz befreite, damit das schöne Anthrazit des Marmorsteins wieder glänzte und schimmerte. Ich wischte mit meinem Ärmel über das Foto meiner Eltern und hinterließ einen kleinen Kuss darauf. Jin hatte die zwei Blumensträuße in die Vasen gestellt und sagte kein Wort, um mir meine Zeit zu lassen. Sie lagen nun in einem Ehegrab, das zwei Meter breit war. Der Rand war ebenfalls aus dem selben Marmor wie der Grabstein. In der Mitte war ein weißes Herz aus weißen Kieselsteinen, welches von grauen Steinen umrandet wurde. Onkel und ich verbrachten Stunden damit, das Grab so herzurichten. Andere Verwandten hatten kleine Engel oder Sprüche auf dem Grab verteilt. Ich stellte die Gießkanne neben Jin auf den Boden, bevor ich mich vor dem Grab kniete und über die grauen Steine streichelte.

"Ich soll euch von Onkel Yun grüßen. Er vermisst euch sehr", murmelte ich leise und sah zu ihrem Foto.

Es war eins ihrer Hochzeitsfoto. Meine Mutter trug ein typisches weißes Prinzessinnenkleid mit ganz viel Tüll und hatte einen langen Schleier auf dem Kopf. Mein Vater hatte einen weißen Anzug an und stand hinter Eomma. Seine Hände lagen auf ihrem Bauch und sie sahen beide lächelnd in die Kamera. Er war ein ganzes Stück größer als sie, sodass sie sich leicht an seine Brust lehnen konnte. Schöne dunkle Locken fielen ihr luftig ins Gesicht und machten sie noch schöner, als sie so schon war. Meine Brust schmerzte so sehr, sodass ich wieder anfing zu weinen. Ich hielt mir eine Hand vor mein Gesicht und fühlte mich so einsam. Warum mussten sie uns verlassen? Jin kniete sich zu mir auf den Kieselsteinweg und umarmte mich fest. Er gab kein Wort von sich, sondern drückte mich einfach an seine Brust.

"Sie fehlen mir so sehr, Hyung. Ich möchte mein altes Leben wieder zurück. Ich fühle mich so leer ohne Appa und Eomma. Bei ihnen konnte ich Schutz und Trost finden. Sie waren immer für mich da und wussten bei jeder meiner Probleme die Antwort. Sie waren die ersten, die mich vom ganzen Herzen geliebt haben. Die mir jeden Fehler verziehen und mich mit offenen Armen empfangen haben. Bei ihnen fühlte ich mich sicher und ich musste mir keine Gedanken darüber machen, was sie von mir hielten. Mir wurde einfach alles weggenommen", weinte ich in seine Brust und krallte mich in seinen Pullover.

Jins Brustkorb bebte, weil er ebenfalls weinte. Er streichelte mir behutsam über den Kopf und flüsterte mir ins Ohr, dass es ihm leid tat. Etwas anderes konnte er nicht sagen, da keine Worte dieser Welt mir Trost spendeten. Nichts würde wieder gut werden. Ich werde bis zu meinem Tod diese Sehnsucht nach meinen Eltern spüren müssen. Dieses Gefühl nach Hause zu wollen, obwohl mein Zuhause nicht mehr existierte.

"Ich wünschte, ich wäre tot", flüsterte ich gegen seine Schulter und schmeckte den bitteren Beigeschmack in diesem Satz.

"Ich bin froh, dass du noch lebst. Wir alle, vor allem dein Onkel, würden es nicht verkraften, wenn du auch von uns gegangen wärst. Deine Eltern leben in deinem Herzen weiter. Vergiss das nicht", erwiderte Jin leise und verstärkte seinen Griff um mich.

Stumm nickte ich, aber fühlte rein gar nichts bei seinen Worten. Mein altes Ich war mit meinen Eltern gestorben und würde niemals wieder zurückkommen. Sie hatten alle den alten Jimin in Erinnerung und dachten, dass ich irgendwann wieder zu diesem zurückfand. Aber ich konnte mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wieder glücklich zu werden oder mit dieser Leere in mir umgehen zu können. Dieses sorgenfreie Kind, das in jeder Situation ein Lächeln auf den Lippen hatte, war ich einfach nicht mehr.

"Ich will meine Eltern einfach nur zurück. Mehr nicht", sagte ich ihm gequält.

Darauf fand Jin keine Worte und hielt mich einfach im Arm. Ich schloss meine Augen und ließ mich erschöpft in seine Umarmung sinken. Tränen rollten über mein Gesicht und durchnässten seinen dunken Pullover. Nach wenigen Sekunden öffnete ich meine Augen und sah das Grab meiner Eltern an. Jin hatte die Lieblingsblumen meiner Eltern in zwei Blumensträuße binden lassen. Rote und weiße Nelken. Die Trauerblume und auch die Geburtsblume meiner Eltern, da sie beide im Januar geboren wurden. Ich fand diese Blumenart auch sehr schön, aber nun konnte ich ihren Anblick nicht ertragen. Es hörte sich zwar dumm an, doch es kam mir so rüber, als hätte diese Blume ein schlechtes Omen über meine Eltern gebracht.

Park Suji
Geboren am 24. Januar 1976
Verstorben am 16. Februar 2013

Park Donghae
Geboren am 24. Januar 1976
Verstorben am 16. Februar 2013

Meine Eltern wurden am selben Tag geboren und starben am selben Tag. Eomma war knapp vier Stunden älter als Appa und machte sich einen Spaß daraus, ihn zu zwingen, sie Noona zu nennen, wenn er frech zu ihr war. Er konnte das überhaupt nicht leiden und ging lieber weg, als sie so zu nennen. Ich fand es immer sehr witzig bei ihren kleinen Streitereien zuzuschauen. Nun gab es diese Diskussionen und Streitereien nicht mehr. Es wird sie niemals wieder geben. Diese Erkenntnis fühlte sich wie tausende Messerstiche in der Brust an. Jede einzelne Erinnerung an sie schmerzte in mir. Ich hatte immer davon geträumt, dass wir in mehreren Jahren, wenn ich selbst verheiratet war, mit meinem Partner auf der Terrasse sitzen und ihm alte Geschichten aus der Vergangenheit erzählen. Dieser Traum wird niemals in Erfüllung gehen.. Niemals.

Guardian | JikookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt