Die Routine war vertraut.
Ein Grund, warum Julien Eiskunstlaufen so liebte, war diese Vertrautheit. Er war quasi auf dem Eis aufgewachsen, war schon im Kindergarten auf Kufen gestanden und hatte schon früh angefangen, bei Wettbewerben zu gewinnen. Dabei war es ihm früher nie um das Gewinnen gegangen; er wollte nur auf dem Eis sein, Sprünge landen und tanzen.
Das war vor dem frühzeitigen Tod seiner Eltern. Bevor er sich mit seinem Bruder zerstritten und sich von ihm abgewandt hatte. Danach hatte er es nur noch aufs Gewinnen angelegt. Wenn er nicht Gold hatte, war er nicht gut genug. Alles außer perfekt wollte er nicht.
(Vielleicht würde er nie gut genug für sich selbst sein.)
Jetzt war aus bedingungsloser, unschuldiger Liebe etwas anderes geworden – immer noch Liebe, aber ein dunkles Hassgefühl hatte sich dazugeschlichen, unterschwellig, aber dennoch da. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er die Hingabe zu seinem Sport langsam verlor.
Also trainierte er.
Julien biss die Zähne zusammen, als seine Gedanken zu dem Eishockeyspieler abdrifteten. Er konnte sich einfach nicht erklären, warum Rezo ihn ernsthaft zu mögen schien. Er war richtig unhöflich zu ihm gewesen, als sie sich zum ersten Mal gesehen hatten.
Rückwärts. Ein wenig langsamer werden – drehen. Waagepiroutte, Arme verschränken, Bein nach oben für die Biellmann-Pirouette, Arme elegant auseinander, mit einer Hand die Kufe des Spielbeins greifen, nach hinten lehnen und in eine Perlenpirouette verwandeln. Er ignorierte, wie schwindelig ihm wurde.
Einfach weiter drehen. Schneller – er schloss die Augen, als sein Magen sich wegen der auf den Kopf gestellten Welt umdrehte.
Fuck, er war kurz vorm Stürzen.
Er riss seine Augen auf. Einen Fluch unterdrückend, verlor er das Gleichgewicht und schaffte es grade noch, sein Bein loszulassen und sich halbwegs aufzurichten, bevor er umkippte und sich grandios aufs Maul legte.
Mit einem in seinen Ohren viel zu lautem Ächzen fiel Julien auf das Eis, seine Hände grade noch verhindernd, dass er mit dem Gesicht voran stürzte. Die Kälte war vertraut. Sie saß so tief in seinen Knochen, dass er sie nicht mehr spürte und das seit Jahren nicht mehr. Er schlitterte einen Meter weiter, bevor er zum Stehen kam.
Alles drehte sich. Vor Anstrengung zitterten seine Arme, als er sich hochstemmte, und sein Atem kam in Stößen. Sein Herz hämmerte so laut, dass er sich fragte, ob man es von außen hören konnte. Julien starrte das Eis an, ohne es wirklich zu sehen, und fragte sich, wann alles angefangen hatte, schief zu laufen.
Du hast so 'nen Ruf in der Eiskunstlaufwelt, mein Lieber.
Er presste seine Lippen fest zusammen und rappelte sich auf. Gleichgewicht, wies er sich selbst zurecht, zieh durch, auch wenn dir schwindelig wird. Acht nicht darauf, wenn dir schlecht wird.
Noch mal von vorne.
Er würde diese Routine verdammt noch mal durchziehen. Er hatte es Kayla selbst gestern gesagt, er wollte Geschichte schreiben. Er würde diese Pirouette machen, er würde den Quadrupel-Axel landen, er würde... er würde Gold holen.
Wem versuchst du eigentlich, etwas zu beweisen?, fragte eine Stimme in seinem Kopf, die sich verdächtig nach seinem Bruder anhörte. Julien ignorierte sie, um seine Figuren weiter durchzuziehen.
Genau hier hat Rezo mich unterbrochen, dachte er, als er sich auf den Lutz vorbereitete, dann, fuck, warum denke ich an ihn? Er bedeutet mir nichts.
Lügner, flüsterte diese dämliche Stimme in seinem Kopf. Er versucht, sich mit dir anzufreunden. Und du magst ihn auch. Du bist nur ein kleiner Feigling und willst niemanden in dein gefrorenes Herz lassen.
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Auf dem Eis - Juzo
FanfictionRezo ist einer der jüngsten und erfolgreichsten Eishockeyspieler der Welt. Als er mit seinem Team für die Olympischen Spiele nach Singapur reist, trifft er auf den atemberaubend begabten Eiskunstläufer Julien. Schon nach weniger Zeit bemerkt er, das...