Irgendwie war er gut gelaunt.
Julien war am Trainieren wie sonst auch immer. Seine Durchlaufe waren langsamer und bedächtiger geworden, wie immer kurz vor großen Wettbewerben. Er konzentrierte sich auf jede letzte Einzelheit seiner Programme, rechnete seine Komponenten neu durch. Sahen seine Kombinationen nicht doch zu generisch aus? Konnte er noch an seinen PCs ruckeln? Konnte er irgendwie seine Artistik besser mit den technischen Aspekten spielen lassen?
Diese Saison war hart gewesen. Langsam, aber sicher, konnte er das zugeben. Sie war die erste, die er ohne Shawn antrat, ohne Coach, alleine gegen die Welt. Mittlerweile konnte er zugeben, dass er sich in dieser Rhetorik ein wenig... verloren hatte. Ein wenig viel sogar.
Die Grand Prix Events dieser Saison hatte er verpasst – besser gesagt, er hatte ihnen abgesagt, um sich für die Olympischen Spiele zu schonen. Seine Federation hatte ihm einen Platz abgesegnet, als er letztes Jahr die World Championships gewonnen hatte. Also hatte er seine Programme noch nicht prämiert.
Seltsamerweise, während er seine Schrittfolge durchübte und experimentell ein paar Schliffe hier und da anlegte, dachte er über das Ende seiner Karriere nach. Und er war trotzdem relativ glücklich.
Was hieß da relativ. Julien hatte schon länger nachgedacht; seit seinen ersten verdammten Olympischen Spielen hatte er darüber nachgedacht, wann er das letzte Mal das Eis betreten würde.
Bei Vollgas bremst man nicht. Doch er spürte jetzt mehr denn je, dass er langsam einen Gang runterfahren musste.
Eiskunstlauf war kein Sport für die Ewigkeit. Lustigerweise wurden Athleten wie er, die jede Saison erneut an den gleichen Wettbewerben teilnahmen, als „Amateure" bezeichnet. „Professionelle" Eiskunstläufer waren die, die nur exklusiv auf dem Eis zu sehen waren. Die nur in Galas und Shows auftraten. Professionell war man dann, wenn man sich nicht mehr messen musste.
Es gab auch einen guten Grund, warum das so war. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, musste ein Eiskunstläufer sich immer weiter entwickeln. Besonders die Sprünge wurden immer aufwändiger – natürlich, denn Quadrupel-Sprünge brachten mehr Punkte, und mehr Punkte brachten den Sieg. Irgendwann konnte man es aber auch nicht weiter treiben. Quadrupel-Sprünge waren inzwischen zur Normalität im Männer-Eiskunstlauf geworden, und auch bei den Frauen gewannen sie an Popularität.
Ob das gesund war?
Julien kannte seinen Körper. Seine Knöchel und sein Rücken waren schon lange von den üblichen Beschwerden aller Eiskunstläufer geplagt. Er hatte all die Jahre lang korrekte Technik benutzt, sich vor dem kompletten Zusammenbruch doch noch Ruhe gegönnt. Durch Physiotherapie und Operationen gestolpert und sich doch immer wieder aufgerappelt. Sein Körper war sein wichtigstes athletisches Mittel. Er war sich bloß nicht mehr sicher, ob die Strapazen sich noch lohnten.
Die olympische Goldmedaille war schon lange sein Traum gewesen. Aber es war am Anfang noch ein geteilter Traum gewesen. Er hatte nicht allein geträumt, er hatte seine Ambitionen immer geteilt – mit seinem Bruder. Und er machte das hier schon zum dritten Mal. Gewonnen hatte er die Spiele noch nie, hier ein sechster Platz, da eine Bronze. Jetzt war er achtundzwanzig Jahre alt und er hatte sich noch nie besser gefühlt.
Er musste sich bei Rezo bedanken. In der vergangenen Woche hatte der Eishockeyspieler es irgendwie geschafft, dass Julien diese ekelhafte mentale Blockade überwunden hatte. Er hasste es nicht mehr, das Eis zu betreten. Er zwang sich nicht mehr zum Durchziehen, wenn ihm schwindlig und schlecht wurde.
Ihm war es irgendwie bewusst geworden, zwischen Stürzen und Panikattacken und Lachen mit Rezos Team. Er hatte eine lange, erfüllende Karriere gehabt. Er hatte gelacht und geweint und seinen Weg hierher erkämpft. Er hatte komplett den Bezug zur Realität verloren, seinen Bruder vergrault, sich selbst gehasst. Und jetzt erst war ihm bewusst geworden, wie abgefuckt er sich selbst behandelt hatte.
In diesem Sport war das irgendwo auch normal. Eiskunstlauf war kein Sport für die Ewigkeit. Vielleicht hatte er das irgendwie schon gewusst, bevor es ihm bewusst worden war.
Julien warf einen Blick auf die Uhr. Ein letzter Durchlauf von seinem Kurzprogramm noch, dann würde er essen gehen. Danach würde er sein Langes noch mal angehen.
Er vermisste Shawn, mehr denn je. Das war ihm auch aufgegangen. Sein großer Bruder, der ihn eigentlich hierher begleiten sollte. Mit dem er damals seine ersten Erfolge gefeiert hatte, mit dem er sich Olympia golden und siegreich erträumt hatte, mit dem er das alles von Anfang an geteilt hatte. Er hatte erst letztens zu Rezo gesagt, Shawn würde ihn bestimmt hassen – aber was Rezo darauf geantwortet hatte, hatte ihn zum Nachdenken gebracht.
Du bist sein kleiner Bruder. Wahrscheinlich hat er dir schon längst vergeben und weiß einfach nicht, wie er es dir sagen soll.
Bei allen Göttern, die Ju kannte, er hoffte, dass da was dran war. So, wie es stand, hatte er ein sehr funktionsfähiges Handy und kannte die Nummer seines Bruders immer noch auswendig. Das einzige, das zwischen einem Anruf an Shawn stand, war nun mal er selbst.
Die Musik ging los. Ein Streichquartett-Cover von Phantom der Oper, ganz klassisch. Shawn hätte sein Short geliebt. Ju hatte es vermutlich mehr unterbewusst als bewusst im Gedanken an ihn gewählt und gestaltet. Er spürte eine Sehnsucht in sich, die er lange unterdrückt und in sich vergraben hatte, eine Art Schmerz, wie man ihn nur haben kann, wenn man eine Person, die man liebt, vermisst.
Während er durch sein Programm rauschte, fasste er endlich einen Entschluss.
Er würde Shawn anrufen. Scheiß darauf, dass sie im Streit auseinandergegangen waren. Diese Spiele waren ihr gemeinsamer Traum gewesen. Es war nicht richtig, dass er ohne seinen Bruder hier war – und vielleicht hatte Rezo ja wirklich Recht und Shawn würde ihm vergeben.
Denn es tat ihm wirklich vom Herzen leid, wie sie sich damals gestritten hatten. Der Schmerz saß so tief, dass Ju ihn immer noch spürte, während er sich die Seele aus dem Leib performte. Und anstatt ihn zu ignorieren und wieder in sich zu vergraben, ließ er sich einfach fühlen, ließ sich selbst spüren, wie stark er sich für diesen Streit hasste, wie sehr er Shawn vermisste, wie viel Reue er empfand.
Die Welt verschwamm. Es gab nichts mehr außer ihm, der Musik und der Performance. Ju tanzte wieder, seine Bewegungen fühlten sich wie pure Kunst an. Er war lange nicht mehr so glücklich auf dem Eis gewesen.
Verdammt, Rezo hatte ihn aufgetaut.
Mit diesem ermutigenden Gedanken ging Ju in seine letzte Pirouette und wirbelte um seine eigene Achse, streckte seine Hand nach seiner Kufe aus, während die Welt sich vor seinen Augen drehte. Er streckte seinen Rücken durch und richtete seinen Blick nach oben, wo er sein Bein hinstreckte – ein Bielmann wie im Bilderbuch. Er ließ nach acht Umdrehungen los und nahm seine Endpose ein, komplett wirr im Kopf.
Er hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlte, auf dem Eis glücklich zu sein.
Hinter ihm donnerte Applaus los, und er fuhr zusammen. Als er sich umdrehte, sah er Rezo mit seiner Mannschaft neben der Eisbahn stehen, in voller Hockeymontur. Ju musste unwillkürlich lächeln, als Rewi laut seiner Begeisterung kund tat, indem er einfach schrie.
Rezos Augen leuchteten mit etwas, das Stolz verdammt nah kam. Da fasste Ju noch einen Entschluss.
Das hier waren seine letzten Olympischen Spiele, und bevor sie vorbei waren, würde er diesen blauhaarigen Hockeyspieler wissen lassen, dass er ihm so dankbar war, dass er es gar nicht in Worte fassen konnte.
Ein Kuss würde reichen müssen.
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digga ich hab ungelogen vor 40 minuten auf einem community post so gesagt "jaaa ich fühl AdE nicht mehr so aber iiiiiirgendwann schreib ich sicher weiter" dann les ich mir diese story wieder durch und baller auf einmal 1.2k wörter raus. wow nach zwei jahren ein neues kapitel!!
vielen lieben dank an alle, die das hier lesen, die ganzen kommentare und sterneles haben mich wirklich zum lächeln gebracht. außerdem: wtf. ju rezo und mexi haben auf diese fanfic reagiert. das schreib ich in meinen lebenslauf fr
kuss <333
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Auf dem Eis - Juzo
FanfictionRezo ist einer der jüngsten und erfolgreichsten Eishockeyspieler der Welt. Als er mit seinem Team für die Olympischen Spiele nach Singapur reist, trifft er auf den atemberaubend begabten Eiskunstläufer Julien. Schon nach weniger Zeit bemerkt er, das...