Kapitel 16

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Jason

Ich verfluchte mich selbst.

Ich verfluchte mich dafür, dass mein blöder Körper sich nicht an die Befehle von mir hielt. Der fast Kuss, der glücklicher – oder unglücklicher – Weise von meiner Mutter unterbrochen wurde, steckte mir noch tief in den Knochen. Und das Verflixte daran war, dass es nicht das erste Mal war, dass ich so die Kontrolle verloren hatte. Immer wenn sie in meiner Nähe war, machte diese Anziehung mich fast verrückt. Dieser schrecklich gut duftende Geruch nach Vanille brachte mich noch um meinen Verstand. Meine Muskeln gehorchten nie meinen Anweisungen und machten einfach was sie wollten. So wie auch damals, als sie eine der, mir wohlbekannten, Schwindelattacken hatte und umgekippt war, konnte ich nichts tun, um mich selbst zu stoppen. Noch bevor ich richtig nachdenken konnte, hatte ich sie bereits auf den Armen ins Krankenzimmer getragen. Jetzt im Nachhinein bereute ich, dass ich den eifersüchtigen Blick von Chantal ignoriert und als unwichtig abgestempelt hatte. Wie konnte ich auch wissen, dass ich somit eine neue Gefahr für Lucy heraufbeschworen hatte?

Zugegebenermaßen hatte ich Chantal erst gar nicht wiedererkannt. Damals als wir Kinder waren, war sie für mich nichts weiter als eine flüchtige Bekanntschaft. Nennt mich fies, aber ich hatte zu dem Zeitpunkt wesentlich besseres zu tun, als mich um die Probleme irgendeines Mädchens zu kümmern. Zumal das ungefähr der Zeitpunkt war, wo es mit ihm kaum aushaltbar geworden war. Und nachdem was er getan hat, wollte ich nur noch weg und verschwendete keinen weiteren Gedanken an Chantal, bis sie Lucy angegriffen hatte.

Das war schon wieder so eine Situation gewesen, wo mein Körper ohne mein Einverständnis gehandelt hatte, als er ihre Angst gespürt hatte. Ich wusste nicht genau, warum ich ein paar ihrer besonders starken Gefühle schon spüren konnte, obwohl wir die Verbindung noch nicht eingegangen waren. Vielleicht lag es daran, dass ich schon das passende Alter erreicht hatte und sie nicht. Das würde auch erklären, warum mein Verlangen nach ihr erst nach ihrem Geburtstag so unglaublich stark geworden ist, dass ich die Kontrolle verloren hatte.

Ich wollte sie nicht so nahe an mich heranlassen.

Niemals.

Auch wenn ich mir fest vorgenommen hatte, es ihr noch vor ihrem Geburtstag zu sagen, konnte ich es nicht. Für mich war es immer noch ein Rätsel, warum ihre Eltern ihr nichts gesagt hatten. Denn dies war von Anfang an offensichtlich der Fall gewesen. Sie hätte es spätestens an ihrem Geburtstag merken sollen. Es konnte auch sein, dass das Gen eine Generation übersprungen hatte, was zwar selten, aber nicht unmöglich war. Ich konnte eigentlich glücklich sein, so einen kleinen Aufschub gewonnen zu haben, aber schlussendlich blieb es an mir hängen, es ihr zu sagen. Doch noch wollte ich warten.

Ich lachte auf. Als ob ich die Nabenwirkungen einfach ignorieren konnte. Alles was ich hier tat, war mich selbst zu belügen, was nicht mehr lange so gut gehen konnte. Auch konnte ich es meiner Mutter nicht ewig verschweigen. Besonders da James heute zurückgekommen war und für genug Aufregung sorgte. Ich konnte froh sein, dass er erst am Dienstag seinen ersten Schultag hatte und ich so morgen noch einen Tag Schonfrist hatte. Obwohl man es wohl kaum so nennen konnte, da meine Mutter ein viel zu großes Drama daraus machte und schon seit Tagen ruhelos durch das Haus wuselte.

„Jason, kommst du dann mal runter!?" Wenn man vom Teufel sprach.

Ein letztes Mal fuhr ich durch meine Haare und seufzte, bevor ich mich an den Abstieg in die James Hölle machte. Er war vor ungefähr einer Stunde gekommen und wahrscheinlich war Mum total angepisst, weil ich noch nicht runtergekommen war, um ihren Lieblingssohn zu begrüßen. Im Esszimmer erwartete mich der nur allzu vertraute Anblick meines perfekten Ebenbildes. Bis auf die Augen und ein winziges Muttermal unter James Auge glichen wir einander bedingungslos. Nur seine Haare waren tadellos zurückgegelt und nicht durcheinander wie meine.

Verschwunden und VergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt