Kapitel 25

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Lucy

Ich folgte James die breiten Treppen hinauf in den langen Flur, den ich schon von den Nachhilfestunden kannte.

Bevor wir das Esszimmer verlassen hatten, hatte ich einen letzten Blick zurück zu Jason geworfen. Die kleine Auseinandersetzung schien ihn wütender gemacht zu haben, als er zugeben wollte. Denn jetzt wo ich darauf achtete, bemerkte ich große Gefühlsschwankungen der beiden. Nur konnte ich nicht immer unterscheiden ob es von James oder Jason kam.

Doch dieses Mal war ich mir sicher, Jasons Gefühle, diese angestaute Wut, zu spüren. Sie pulsierte durch meine Adern wie kochende Lava. Zugegeben machte auch mich das leicht reizbar. Dennoch wunderte ich mich über die Intensität des Zornes. Es war nichts Neues, dass die Zwillinge ihre Differenzen hatten und Jason hatte auch sehr deutlich klargemacht, was er von James hielt.

Jedoch hatte ich nie geglaubt, dass dieser Hass so stark war. Dass er so zerreißend war.

„Es tut mir leid, dass wir dich jetzt so unter Druck setzten." James drehte sich zu mir um und betrachtete mich. Mir wurde warm und ein Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus.

Diese verdammte Verbindung.

„Das ist nicht deine Schuld."

„Naja, genau genommen bin ich nicht ganz unschuldig. Ich war immerhin derjenige, der zu spät zurückgekommen ist. Hätte ich nicht unbedingt vor dieser Familie fliehen wollen, wäre alles vielleicht anders gekommen."

„Vielleicht. Aber jetzt können wir es sowieso nicht mehr ändern. Mein Bruder hatte in diesem Punkt recht: Ich sollte mich nicht allzu sehr auf das konzentrieren, was hätte sein können, sondern auf das hier und jetzt. Und nun muss ich mich nun mal entscheiden." Ich zuckte mit den Schultern, selbst von mir verwundert mit wie viel Optimismus ich in dem Ganzen sah.

Meine Eltern und meine beste Freundin hatten mich vergessen und nur Gott wusste, wann es meinen Bruder befallen würde. Doch jetzt fühlte ich aus einem komischen Grund eine Hoffnung. Ich glaubte irgendwie daran, dass alles wieder gut werden würde, so unwahrscheinlich es auch schien.

Ja, ich musste eine Entscheidung treffen, die den Rest meines Lebens beeinflusste. Doch wie es wohl aussah hatte ich immer einen Menschen, der mich unterstützte.

Meinen Bruder.

Und in diesem Moment war ich so dankbar dafür, dass ich gleich wieder in Tränen ausbrechen könnte. Denn die Wärme und den Trost, Sebastian mir gegeben hatte, waren in solchen Momenten des Lebens unendlich kostbar.

Nach ein paar weiteren Schritten hielten wir vor einer Tür.

„Das hier ist dein Zimmer. Du kannst hier so lange bleiben, bis sich alles wieder geklärt hat", erklärte James.

„Danke." Ich nickte kurz und streckte die Hand nach der Klinke aus. Doch James hielt mich zurück. Sanft drehte er mich zu sich und legte seine Finger an mein Kinn. Mein erster Instinkt war es zurückzuweichen, doch ich blieb wo ich war. Sachte hob er mein Kopf an und zwang mich so in seine Augen zu sehen.

„Ich will nur, dass du weißt, dass sowohl Jason als auch ich deine Entscheidung akzeptieren werden, egal wer es am Ende wird. Wir werden beide immer für dich da sein, auch wenn ich ehrlicherweise natürlich bevorzugen würde, wenn du mich wählst." Er lachte leise. Der Klang jagte mir einen Schauder über den Rücken. „Aber ich wollte einfach nur noch mal sagen, dass wir dich nicht hassen werden, nur weil du dich für den anderen entscheidest. Das ist zumindest meine Ansicht der ganzen Sache..." ...bei Jason wäre ich mir da nicht so sicher, beendete ich seinen Satz in meinem Kopf.

Dann entließ er mein Kinn und wandte sich zum Gehen.

„Falls du etwas brauchst, mein Zimmer ist direkt gegenüber." Damit verschwand er hinter der Tür und ließ mich einfach stehen, wie bestellt und nicht abgeholt.

Verschwunden und VergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt