Kapitel 29

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Für einen Moment blieb ich wie erstarrt. Ich hatte ihn in dem verdunkelten Raum gar nicht bemerkt, bis er seine Stimme erhoben hatte. Noch immer in der Tür stehend, stotterte ich als Antwort: „A-Also ich w-wollte... Ach...Können wir uns nicht erst einmal irgendwo hinsetzten und es hier etwas heller machen?"

„Meinetwegen."

Schwerfällig bewegte er sich auf die Fenster zu. Die leisen Piep Geräusche die entstanden als er auf den Schalter an der Wand drückte, waren das Einzige, was man hörte. Mit einem Surren bewegten die Rollläden sich und gaben den Blick auf den Garten frei. Die riesige Grünfläche war von vielen bunten Blättern verdeckt, die von den verschiedensten Bäumen herabgefallen waren. Der kleine Teich in der Mitte beherbergte viele Fische, die man von Weitem nur erahnen konnte. Hohes Schilf umrahmte das von Algen bedeckte, grüne Wasser. Es sah aus wie in einem Märchen. Die leichten Nebelschwaden machten etwas Magisches aus dem Ort.
Ich beobachtete ein Eichhörnchen, das sich eine Nuss vom Boden schnappte und sogleich flink eine große Kastanie hinaufhüpfte. Einige vom Wind in die Luft gewehten Blätter setzten sich nun sanft, fast vorsichtig, auf den alten, von Wetter und Zeit zerfurchten Gartenmöbeln ab. Sie verliehen dem Ganzen etwas Gemütlichkeit und Geborgenheit, sodass man sich dort nur wohlfühlen konnte. Und direkt vor dem Fenster hing ein kleiner Kokon, der meine Aufmerksamkeit anzog. In ihm versuchte ein kleiner Schmetterling ans Licht zu gelangen. Mühsam streckte er einen Flügel nach draußen. Noch zitterte er schwach, aber bald würde er in die Welt hinausfliegen. Er vervollständigte das malerische Bild mit all seiner Schönheit, den kleinen Kratzern und Fehlern, ohne Perfektion, einfach nur einen kleinen Ausflug von der Realität. Es war alles eine Einheit. Vor meinem inneren Auge sah ich geradezu wie spielende Kinder über die Wiese liefen, sich in den bunten Blättern rollten und ihre Augen vor Glück und Freude strahlten. Die Eltern saßen gemütlich Arm in Arm auf der bequemen Bank, die mit vielen Sitzkissen beschmückt war und sahen ihren Kindern beim Spielen zu. Sie waren glücklich, eine Familie.

Urplötzlich überkam mich eine Traurigkeit, die mir schwer auf meinen Schultern lastete und mir Tränen in die Augen trieb. Die Sehnsucht, die diese inneren Bilder auslöste, schmerzte mit jedem Atemzug mehr. Eine einsame Träne kullerte über meine Wange. Zitternd atmete ich ein.

Plötzlich spürte ich zwei Arme, die mich von hinten umschlossen. Arme, in denen ich mich geborgen fühlte. In die ich immer flüchten konnte, wenn es mir nicht gut ging. Mit einem tiefen Seufzer lehnte ich mich an Jasons starke Brust und schloss die Augen. Ich war eine schreckliche Freundin. War ich nicht eigentlich hergekommen, um Jason zu helfen? Um ihm eine Stütze zu sein? Und jetzt? Jetzt lag ich schon wieder in seinen Armen und ließ mich von ihm trösten.

„Es tut mir leid." Meine Stimme war heiser, kaum zu hören. Dennoch hatte Jason mich verstanden.

„Was tut dir leid?" Seine raue Stimme ließ mich erschaudern. Über meinen ganzen Körper breitete sich eine Gänsehaut aus.

„Das alles!", ich holte zitternd Luft: „Ich meine, ich bin hergekommen, um für dich da zu sein, da das alles für dich noch schmerzhafter ist als für mich. Ich habe mir Sorgen gemacht, wollte wissen, ob es dir gut geht und wollte für dich da sein. Es ist immerhin meine Schuld, dass du nie wieder einen Seelenverwandten haben kannst. Und jetzt? Jetzt stehe ich heulend in deinen Armen und lasse mich von dir trösten! Das ist so erbärmlich. Ich bin erbärmlich!"

Weitere Tränen bahnten sich einen Weg meine Wange hinunter. Ein Schluchzer schüttelte mich, während ich beruhigender Weise seinen warmen Atem in meinem Nacken spürte. Ich fühlte wie er mir Kraft gab, Sicherheit und Trost. Ich spürte wie er sich zu meinem Ohr vorbeugte:

„Du bist nicht erbärmlich. Ja, der Schmerz ist groß oder war es zumindest. Und ja, ich war sauer auf dich, aber ich habe deine Entscheidung immer verstanden, das heißt aber nicht, dass ich sie guthieß. Ich kann verstehen, wenn du lieber jemanden wolltest, der dir Sicherheit gibt und dich nicht anlügt. Ich wünschte dennoch so sehr, dass ich dich hätte warnen können. Ich bin einer der wenigen, der weiß, dass alles was James tut, ist andere Leute zu manipulieren. Bei dir hatte er es dank meinen Lügen auch noch sehr leicht."

„Wieso tut er das denn?", unterbrach ich ihn.

„Er ist eifersüchtig auf mich, weil ich laut ihm alles habe und nicht an die Erwartungen unserer Eltern gebunden bin. Erst jetzt habe ich das so richtig verstanden. Er hat das getan, weil er mir etwas sehr Wichtiges nehmen wollte, aber jetzt habe ich gemerkt, dass er genau dies nicht geschafft hat."

„Wieso?", fragte ich verwundert.

„Ich habe die letzten Tage gedacht, ich hätte dich verloren, weil ich nichts spüren konnte. Weder deine Präsenz noch deine Gefühle. Das hat sehr wehgetan. Ich konnte kaum essen oder schlafen. Diese innere Leere hat mich fast zerdrückt. Aber als ich dich gesehen habe, habe ich dich wieder gespürt. Das war aber so schwach, dass ich dachte, ich bilde mir das ein. Doch als du vorhin aus dem Fenster gestarrt hast, habe ich deine anfängliche Freude, die sich dann in Trauer und Sehnsucht umwandelte gespürt. Ich habe gefühlt, was du fühlst. Ich glaube, wir haben uns noch nicht verloren, sondern sind immer noch verbunden."


Verschwunden und VergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt