Ich starrte die Uhr an. Noch ungefähr eine Minute, dann hatte ich diese Qual überstanden. In einer Minute würde ich eins der schönsten Geräusche überhaupt hören: das Klingeln, das das Ende der Stunde ankündigte. Und nach diesem Klingeln konnte ich von meinem Stuhl aufspringen, mein Zeug in meine Tasche stopfen und sofort die Flucht ergreifen. Ich wollte nicht eine Sekunde länger als notwendig in diesem Affenstall zubringen.
Während der Lehrer vorn weiter irgendwelchen Scheiß herunterratterte und Blödsinn an die Tafel schmierte, schien sich der Sekundenzeiger der Uhr in Zeitlupe zu bewegen. 29 Sekunden... 28 Sekunden... jede Sekunde schien Stunden zu dauern. Es war schrecklich. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte der Zeiger endlich sein Ziel erreicht und die Glocke erscholl.
Der Lehrer machte zwar nicht die geringsten Anstalten, mit dem Unterricht aufzuhören, doch das interessierte niemanden. Es war Freitag! Uns erwartete das Wochende! Nicht ein mal den Klassenstreber juckte jetzt noch das Gequassel über quadratische Funktionen. Alle waren schon längst aufgesprungen und hatten ihr Mathezeug so, wie es war in ihre Taschen gefegt.
Mehr als die Hälfte der Stühle im Klassenzimmer war ungefallen. Die Ersten stürmten auf die Tür zu. Der Lehrer konnte sich gerade noch davor retten, über den Haufen gerannt zu werden. Niemand würdigte ihn mehr eines Blickes. Die Klasse drängte sich aus der Tür und stürmte das Treppenhaus hinunter in die Gaderoben. Die waren natürlich komplett überfüllt. Wie jeden Freitag brach das ultimative Chaos aus.
Ich zog so schnell wie möglich meine Schuhe an und warf mir meine Jacke über. Dann quetschte ich mich irgendwie an den anderen vorbei und schaffte es nach draußen. Endlich! WOCHENENDE! Zwei ganze Tage, an denen ich nicht hier her kommen musste. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, um jede Sekunde meiner wertvollen Freizeit auskosten zu können.
Ich war nur noch eine kurze Zugfahrt und ein paar Minuten Fußmarsch von meinem Zimmer und damit von meinen Büchern entfernt. Ich hatte fest geplant, das ganze Wochenende mit lesen zu verbringen. Meine Ausgabe von 'Der kleine Hobbit' war gestern angekommen und ich freute mich schon riesig darauf, das Buch zu lesen. Es war ohnehin eine Schande, dass ich 17 Jahre alt war und es noch nicht gelesen hatte.
Ich marschierte also zügig zum Bahnhof und zählte die Minuten bis der Zug kam. Natürlich hatte er Verspätung... eher friert die Hölle zu, als das mal irgendein Zug von der Deutschen Bahn pünktlich kommt. Ein wenig angepisst, aber noch immer voller Vorfreude auf das Buch, dass mich zu Hause erwartete, stieg ich ein. Nach fünf Stationen verlies ich die Bahn wieder und machte mich auf den Nachhauseweg.
Normalerweise brauchte ich so 10 Minuten, aber da ich eine Abkürzung kannte und es heute eilig hatte, bog ich nach der Hälfte des Weges von der Hauptstraße ab in eine Seitengasse. Unter Seitengasse stellt man sich ja normalerweise etwas zwielichtiges und verdächtiges vor, aber das hier war was anderes. An sich war es eine ganz normale Gasse mit normalen Gehsteigen und normalen Häusern. Weder zwielichtig noch verdächtig.
Ich lief also friedlich pfeifend den Gehweg entlang und achtetete nicht wirklich darauf, wo ich hintrat. Nach ein paar Metern kam es wie es kommen musste. Ich trat in ein Loch und fiel. Bestimmt war es ein Gulli, den irgendwer offen gelassen hatte. Da ich aber nach einer ganzen Weile noch immer nicht in einer Suppe aus Exkrementen gelandet war und es auch ganz und gar nicht nach Kanalisation roch, kam ich zu dem Schluss, dass ich hier wohl doch nicht in einen Gulli gefallen war.
Ich schaute nach oben, aber das Loch, durch das ich gefallen war, war nicht mehr zu sehen. Überhaupt nichts war mehr zu sehen. Ich schrie. Und ich hörte einfach nicht auf zu fallen. Ich fiel und fiel und fiel einfach immer weiter. Was zur Hölle war das hier? Irgendwann verlor ich jegliches Zeitgefühl. Ich schrie noch immer.
Nach sehr viel Fallen und Schreien erblickte ich unter mir ein weiteres Loch, das auf mich zuraste. Brüllend stürzte ich durch das Loch. Unter mir sah ich einen braunen Weg, der sich durch grüne Wiesen und Hügel schlängelte. Ich hätte das alles ja echt schön gefunden, wäre ich nicht gerade mit einem Affenzahn darauf zugerast. Gleich würde ich auf dem Weg aufklatschen und zu einem Haufen rotem Glibber zerschellen.
Panisch plärrend fiel ich immer weiter. Ein graues Etwas auf einem bräunlichen Etwas kam in mein Sichtfeld. Weil ich so schnell fiel konnte ich nicht erkennen, was es war. Ein paar Sekunden später landete ich auf dem Etwas.
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Wie ich in einen Gulli fiel und in Mittelerde landete
FanfictionFreitag Nachmittag, die Schule ist aus und natürlich will Hildegard sofort nach Hause. Mit ihren Gedanken ist sie schon in ihrem neuen Buch... so kommt es auch, dass sie einen offenen Gullideckel übersieht und geradewegs hineinstolpert. Aber anstatt...