Kapitel 1.2

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Ich öffnete meine Augen und seufzte niedergeschlagen.
Ich hörte, das um mich herum bereits geschäftiges Treiben herrschte.
Vielleicht, wenn ich mich nicht rührte, würden die Anderen nicht bemerken, das ich wach war.
Doch das würde mir ohnehin nur ein paar Minuten Schonfrist verschaffen, bevor ich mich wieder meiner harten Realität stellen musste.
Ich richtete mich halb auf und warf einen Blick auf den Digitalwecker neben meinem Bett.
4:56.
Noch vier Minuten.
Hörbar atmend ließ ich mich zurück auf mein Kissen fallen und schlug die Hände vor meinem Gesicht zusammen.
Die Zeit, die ich in meiner CR verbringen musste, war die Hölle für mich.
Es war anstrengend und nervenzerreißend.
Doch meine DR hielt mich am Leben. Ließ mich an etwas festhalten. War mein letzter Strohhalm.
Und aus irgendeinem Grund kam mir in genau dieser Sekunde der Gedanke, das der Fremde mir diesen Rückzugsort vielleicht nehmen könnte.
Wieso fiel er mir so auf?
Normalerweise interessierte ich mich kaum für die Menschen in meiner DR, die mir fremd waren.
Sie stellten ja auch keinerlei Bedrohung dar.
Doch dieser Fremde tat genau das.
Ich konnte mir nur nicht erklären, wieso.

Ich fingerte meine Zigaretten aus meiner Jackentasche und zündete mir eine an, während ich mich an die Betonwand lehnte.
Ich ließ wachsam meinen Blick über das karge, trockene Wüstenareal vor mir streifen und zog gedankenverloren an der Zigarette.
Der Fremde sah nicht einmal schlecht aus.
Er war, im Gegenteil, sogar sehr attraktiv.
Braunes, lockiges Haar. Aufmerksame, dunkle Augen. Volle Lippen.
Das konnte es also auch nicht sein, was mich an ihm so störte.
Ein Geräusch lies mich zusammenzucken und ich presste die Waffe in meinen Händen enger an meine Brust, zog mich in den Schatten zurück.
Ich ließ meinen Blick über die Umgebung streifen und blieb an einem vertrockneten Busch hängen, aus dem ein leises Rascheln erklang.
Ich verengte meine Augen zu Schlitzen und machte einen Schritt nach vorn.
Ein herzzerreißendes Miauen ertönte und ein völlig abgemagertes Kätzchen kroch aus dem Busch.
Mitleidig legte ich den Kopf schief und ging in die Knie.
"Komm her, Kleines",flüsterte ich und streckte eine Hand nach ihr aus.
Das Kätzchen konnte sich kaum auf den Beinen halten, schwankte bedrohlich bei jedem Schritt.
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
"Tida!",ließ mich eine tiefe Stimme in meinem Rücken zusammenzucken.
Ich erhob mich schnell und drehte mich um.
"Was zum Teufel machst du da?",knurrte Bene mich an.
Er kam auf mich zu und fasste mich grob am Arm, zog mich tiefer in den Tunnel.
"Sie könnte kontaminiert sein! Willst du uns alle umbringen?!"
"E-Entschuldige, ich hab nicht nachgedacht",presste ich hervor und versuchte das Zittern in meiner Stimme zu verbergen.
Benedikt war zwei Jahre älter als ich, groß und mit markanten Gesichtszügen.
Und er war brutal.
Er war hier der Mann fürs Grobe.
Und zu mir war er besonders grob.
Meine Realität war ein gesetzesloser Ort.
Jeder konnte hier tun und lassen, was er wollte. Alles wurde geduldet. Alles bis auf Mord.
Das veranlasste Bene dazu, sich zu nehmen, was er wollte.
Mich.
Es störte mich nicht weiter.
Eigentlich war es sogar die einzig gute Sache an meiner CR.
Denn seine Attitüde zog mich an.
Daher fiel es mir nicht sonderlich schwer, mich ihm hinzugeben.
Ich wollte es.
So wie in jenem Moment.
Seine zornigen Augen hefteten auf mir und ich biss mir unwillkürlich auf die Lippen.
Es machte mich an, wenn er wütend auf mich war.
Denn das holte das Beste aus ihm heraus.
Deshalb legte sich auch ein Lächeln auf meine Lippen, ohne, das ich es hätte verhindern können.
"Findest du das etwa auch noch lustig?!"
Benes Hand schnellte an meine Kehle und ich atmete hörbar aus.
"Nein, Bene",antwortete ich erstickt.
"Dein Grinsen wird dir gleich vergehen, Baby",presste er aus zusammengebissenen Zähnen hervor und leckte sich über die Lippen.
"Bene!",ertönte eine Stimme aus den Tiefen des Tunnels und wir drehten gleichzeitig unsere Köpfe, Bene ließ jedoch nicht von mir ab. Stattdessen zog er mich dichter an sich.
"Was willst du, Karl?!",rief er genervt.
Karl trat aus der Dunkelheit des Tunnels und zog irritiert die Augenbrauen hoch.
"Störe ich?!",wollte er wissen und verschränkte die Arme vor seiner Brust.
"Allerdings",erwiderte Bene, wandte sich mir zu und leckte mir lassziv über meine Lippen, was mir unwillkürlich ein leises Stöhnen entlockte.
"Ihr vögelt miteinander?! Echt jetzt?! Das hätte ich nicht gedacht!",bemerkte Karl erstaunt.
"Was willst du, Karl?!",fragte Bene erneut, seine Stimme klang dieses Mal dunkler.
"Pokerrunde",erwiderte Karl schulterzuckend.
Bene atmete hörbar genervt aus.
"Verpiss dich",knurrte er, wandte sich wieder mir zu und ohne weiter auf Karl zu achten, presste er gierig seine Lippen auf meine.

"Wie hast du geschlafen?", wollte Caleb wissen und ich zuckte mit den Schultern.
"Ganz gut, und du?"
"Es ging so",erwiderte er und gähnte wie aufs Stichwort.
"Ich hab so keine Lust auf Ms. Kellerman!",stöhnte er und ich pflichtete ihm bei.
"Schätze, das macht das Single- Dasein aus einem. Man wird zu einer verbitterten, alten Ziege, die ihren Unmut an Kindern auslassen muss",sagte ich und zuckte mit den Schultern.
"Hey, da ist er wieder!",rief Caleb aus und deutete mit dem Finger auf den Strom der Schüler, der in die Schule kleckerte.
Ich sah gerade noch den dunklen Lockenkopf des Fremden in der Menge verschwinden.
"Na, das ist ja ganz wunderbar! Vermutlich ist er auch noch in unserem Jahrgang",stöhnte ich und verdrehte genervt die Augen.
"Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Ich schätze, er wiederholt",sagte Caleb nachdenklich.
"Wie kommst du darauf?"
"Das Bier?"
Ich runzelte fragend die Stirn.
"Na, er hat in der Pizzaria gestern ein Bier getrunken! Das heißt, er muss mindestens einundzwanzig sein",fachsimpelte Caleb und wirkte beinahe stolz, ob dieser bahnbrechenden Erkenntnis.
"Oder er hat einen gefälschten Ausweis, Sherlock?!",bemerkte ich und klopfte Caleb auf die Schulter, ehe ich mich durch die Eingangstür schob.
"Daran hab ich nicht gedacht",gab er kleinlaut zu.

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