9 - Wahre Schönheit

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Heute ist der Tag gekommen, an dem ich das erste Mal in meinem Leben freiwillig das Leichtathletiktraining schwänzen werde. Nach meiner Blamage am vergangenen Freitag kann ich mich nicht mehr auf dem Sportplatz sehen lassen, ohne von allen Seiten mit spöttischen und abschätzigen Blicken bedacht zu werden.

Um ehrlich zu sein wundert es mich sowieso, dass mein Zusammenbruch noch nicht die Runde an der Southwest High gedreht hat, schließlich lieben es die Schüler hier, Klatscht und Tratsch zu verbreiten.

Da ich zum Glück davon verschont geblieben bin, zum Gesprächsthema Nummer Eins der Schule gekürt zu werden – geheiligt sei mein Karma – wissen nicht mal meine besten Freundinnen von meinem peinlichen Auftritt auf der Laufbahn. Dementsprechend gehen sie auch alle davon aus, dass ich heute ganz normal das Leichtathletiktraining besuchen werde.

„Viel Spaß, Marls!", verabschiedet sich Kaylee wie jeden Dienstag mit einer Umarmung von mir. „Hoffentlich lässt euch der Coach bei dieser Hitze nicht allzu sehr leiden."

„Glaub mir, Kay, so etwas wie Gnade kennt Coach Miller nicht", seufze ich frustriert. „Die entspannten Zeiten bei Coach Snow sind vorbei."

Obwohl ich heute nicht mal am Training teilnehmen werde, bereitet mir allein schon der Gedanke daran, wie Coach Miller die anderen aus dem Team über den Platz jagen wird, fürchterliche Bauchschmerzen.

Sein Ziel ist es, das Finale der diesjährigen Schulmeisterschaften zu erreichen. Dafür setzt er alle Hebel in Bewegung, die notwendig sind – egal, ob das Thermometer beinahe 40 Grad anzeigt oder nicht.

„Na ja, irgendwie werde ich es schon überleben", winke ich schließlich ab. „Ansonsten musst du mich morgen in die Schule tragen, wenn ich nicht mehr laufen kann. Iss also heute Abend genug, um deine Ärmchen zu stärken."

Kaylee verdreht grinsend ihre rehbraunen Augen, ehe sie mir noch einmal zuwinkt und dann die überfüllte Bushaltestelle ansteuert.

Scheinbar war mein Schauspiel so überzeugend, dass sie keinen Verdacht geschöpft hat.

Ob ich meinen Berufswunsch eventuell überdenken und ins Filmgeschäft einsteigen sollte?

Begleitet von einem Seufzen mache ich mich auf den Weg zu den Umkleidekabinen. Auch wenn ich nicht zum Training erscheinen werde, sollte ich noch für die nächste Viertelstunde, in der meine besten Freundinnen auf den Bus warten, die Illusion aufrechterhalten, als ob alles ganz normal sei. Würde ich nämlich mitten auf dem Schulhof stehenbleiben, wüssten meine Freundinnen sofort, dass etwas nicht stimmt.

Und das gilt es zu verhindern!

Ich bin so sehr in meinen Gedanken vertieft, dass ich erst viel zu spät bemerke, wie sich mir eine Person in den Weg stellt. Ohne es verhindern zu können, pralle ich gegen einen harten Oberkörper.

Wie in einem schlechten Film muss mich mein Gegenüber an der Taille festhalten, damit mein Allerwertester keine Bekanntschaft mit dem Boden schließt.

„Da kann es wohl jemand kaum abwarten, endlich zum Training zu kommen", ertönt ein belustigtes Lachen neben meinem Ohr.

Nicht nur die raue Stimme, die eine Gänsehaut auf meinem Körper hinterlässt, sondern auch der Geruch nach Pfefferminze verrät mir, dass es sich bei der Person, in dessen Armen ich liege, um Rocco Levine höchstpersönlich handelt.

Ausgerechnet der Mensch, um den ich einen riesigen Bogen machen wollte, steht nun unmittelbar hinter mir. Na toll ...

Schnell löse ich mich aus seinen Armen und schaffe Abstand zwischen uns.

Seit der gestrigen Mittagspause habe ich es erfolgreich geschafft, Rocco aus dem Weg zu gehen. Meine Schuldgefühle ihm gegenüber sind viel zu groß, als dass ich mich mit ihm unterhalten könnte.

Für dich klaue ich die SterneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt